# taz.de -- „Cumhuriyet“-Prozess vertagt: Raus aus dem Saal | |
> Mit dem Ausschluß des Angeklagten Ahmet Şık ging der Prozess in seine | |
> fünfte Anhörung. Anwälte wiederholen den Vorwurf politischer Justiz. | |
Bild: Protest gegen die Anklage im Oktober | |
ATHEN taz | Ahmet Şık, der bekannteste Investigativjournalist der Türkei, | |
darf zukünftig nicht mehr an seinem eigenen Prozess teilnehmen. Weil ihm | |
[1][die Verteidigungsrede von Şık] zu politisch war, schloss der | |
Vorsitzende Richter ihn am Montag nicht nur für den laufenden | |
Verhandlungstag, sondern gleich für das gesamte weitere Verfahren aus dem | |
Gericht aus. | |
Als Begründung hieß es, wenn Ahmet Şık in Reden den Präsidenten und die | |
regierende AKP kritisieren wolle, solle er sich ins Parlament wählen | |
lassen. In seinem Prozess sei jedenfalls kein Platz dafür. | |
Şık hatte in seiner Verteidigungsrede den Zustand des Rechtsstaates in der | |
Türkei beklagt und die Vorwürfe scharf zurückgewiesen, er unterstütze oder | |
sei gar Mitglied der kurdischen „Terrororganisation PKK“ sowie der | |
„Terrororganisation FETÖ“, der islamischen Gülen-Sekte, der vorgeworfen | |
wird, den Putschversuch vom 15. Juli 2016 initiiert zu haben. | |
Ahmet Şık ist einer von 17 Angeklagten der linksliberalen Tageszeitung | |
Cumhuriyet, denen Propaganda oder Unterstützung von Terrororganisationen | |
vorgeworfen wird. Während 13 der Angeklagten im Laufe des Prozesses nach | |
und nach aus der U-Haft entlassen wurden, sitzen Şık und drei weitere | |
Angeklagte, darunter der Cumhuriyet-Chefredakteur Murat Sabuncu, weiterhin | |
in Haft. | |
## Tumult im Gerichtssaal | |
Der Prozesstag fand ausgerechnet an Weihnachten vor dem Istanbuler | |
Hauptgericht in Çağlayan statt. Auf dem Parkplatz vor dem Gerichtsgebäude, | |
der angesichts der vielen Verfahren gegen Oppositionelle bereits so etwas | |
wie der Hauptprotestplatz der Republik geworden ist, hatten sich wieder | |
zahlreiche Unterstützer und Freunde von Cumhuriyet eingefunden. Trotz | |
anhaltender Repression und dem nach wie vor andauernden Ausnahmezustand im | |
Land, lassen sich weder die Redaktion noch die Unterstützer der Zeitung | |
davon abhalten, bei jedem Verhandlungstag ihre Solidarität mit den | |
Angeklagten zu erklären. Jeden Tag bildet Cumhuriyet die Angeklagten auf | |
der Titelseite ab und zählt auf, seit wie vielen Tagen sie bereits in Haft | |
sind. | |
Als der Richter Ahmet Şık vom Verfahren ausschloss, entstand ein Tumult im | |
Gerichtssaal. Zahlreiche anwesende Freunde und Unterstützer der Angeklagten | |
protestierten lautstark, der Richter drohte daraufhin, die Öffentlichkeit | |
ebenfalls vom Prozess auszuschließen. Chefredakteur Murat Sabuncu, der seit | |
über einem Jahr darauf wartet, endlich zu seiner Verteidigung vor Gericht | |
sprechen zu können, sagte nach dem Rauswurf von Ahmet Şık, er werde an | |
diesem Verhandlungstag aus Protest nicht mehr Stellung nehmen. | |
Der Prozess gegen die Journalisten und Herausgeber von Cumhuriyet ist der | |
wichtigste Presseprozess in der Türkei. Die renommierte Cumhuriyet, die | |
älteste Tageszeitung der Türkei, steht in dem Verfahren stellvertretend für | |
alle anderen regierungskritischen Journalisten vor Gericht. | |
Neben diesem Hauptverfahren gibt es einen weiteren Prozess, in dem der | |
frühere Chefredakteur Can Dündar (der heute in Deutschland lebt), der | |
Ankara-Korrespondent Erdem Gül und der Abgeordnete und stellvertretende | |
CHP-Parteivorsitzende Enis Berberoğlu angeklagt sind. Es geht um | |
angeblichen Geheimnisverrat, weil Dündar und Gül in der Cumhuriyet im Juni | |
2015 einen Artikel mit Fotos von geheimen Waffenlieferungen der Türkei an | |
islamistische Gruppen in Syrien veröffentlicht hatten. | |
Für die Cumhuriyet werden die laufenden Gerichtsverfahren mehr und mehr zu | |
einer Existenzbedrohung – zusätzlich noch zu der Möglichkeit, dass die | |
Zeitung durch die Regierung geschlossen werden könnte. Die Erlöse aus dem | |
Verkauf der Zeitung reichen nicht, um alle laufenden Kosten und die | |
Gerichtskosten zu decken und Anzeigen gibt es praktisch nicht mehr, weil | |
Anzeigenkunden Angst haben in der Cumhuriyet zu inserieren. Trotzdem hält | |
das Blatt unbeirrt an seiner Kritik der AKP-Regierung fest. | |
Nach dem Ausschluss aus dem Prozess besteht für Ahmet Şık kaum noch | |
Hoffnung, vor Ende des Verfahrens aus der U-Haft entlassen zu werden. Das | |
gleiche gilt für Mehmet Sabuncu. Beide dürfen außer von ihren Anwälten nur | |
von ihren engsten Angehörigen Besuch erhalten. Der Prozess wird am 9. März | |
2018 fortgesetzt. | |
26 Dec 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://www.gazete.taz.de/article/?article=!5473191 | |
## AUTOREN | |
Wolf Wittenfeld | |
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