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# taz.de -- Gerichtsberichterstattung in der Türkei: Schlafen im Justizpalast
> Vom Alltag einer Gerichtsreporterin in Zeiten massenhafter Festnahmen von
> Kollegen
Bild: Der Justizpalast Çağlayan ist eine auf 343 Quadratmeter angelegte eigen…
„Jedes Lebewesen soll den Tod kosten“ – dieser Koranvers steht am Eingang
eines Istanbuler Friedhofs. Dieser Vers kommt mir jedes Mal in den Sinn,
wenn ich unter dem Torbogen des Istanbuler Justizgebäudes hindurchgehe,
dieses seelenlosen grotesken Orts in Çağlayan, den sie „Palast“ nennen.
Dann denke ich: „Über jedes Lebewesen wird eines Tages gerichtet werden.“
Ich bin mindestens zwei- bis dreimal wöchentlich als Reporterin für die
Cumhuriyet bei Gericht, um über Prozesse gegen Journalisten, Juristen oder
Menschenrechtler zu berichten. „Du schläfst wohl hier?“, lautet die
häufigste Frage, die mir dort gestellt wird. Tatsächlich habe ich schon
häufiger in Çağlayan übernachtet. Es ist furchtbar: Man wird von
juristischen Abkürzungen auf dem Ledersofa der Rechtsanwaltskammer in den
Schlaf gewogen. Und erst das stundenlange Warten auf ein Urteil …
Die Gerichtsberichtsberichterstattung ist in der Türkei so etabliert, dass
die Presse im Justizpalast einen eigenen Raum hat. Wir haben spezielle
Ausweise, auf denen „Gerichtssaal-Presse“ steht, die uns von der
Staatsanwaltschaft ausgestellt wurden. Was allerdings nicht ausschließt,
dass auch wir eines Tages verhaftet werden können.
## Heimlich rauchen in der Toilette des Justizpalastes
Im Juli 2014, als die Ermittlungen gegen die Gülenisten begannen, warteten
wir im Presseraum auf das Ende einer Befragung. Es war spät in der Nacht,
einige schliefen auf den Schreibtischen, andere auf Stühlen, als ein
Kollege plötzlich sagte: „Heute Nacht werden sie jemanden aus diesem Raum
verhaften.“ Zwar ist das nicht passiert. Aber dass so etwas Absurdes
passieren könnte, war in unseren Albträumen durchaus vorstellbar.
Doch es hat auch „amüsante“ Seiten, so viel Zeit bei Gericht zu verbringen.
Zum Beispiel wenn man über versteckte Wege in den Gerichtssaal gelangt,
nachdem einem Sicherheitskräfte den Zutritt verboten haben. Ich meine nicht
irgendwelche mysteriösen Geheimwege, sondern unbenutzte Treppenhäuser und
Fahrstühle. Allerdings braucht man starke Nerven, um an dem
Sicherheitsbeamten vorbeizukommen, der einen nur wenige Meter vor dem
Gerichtssaal mit einem „Bitte kommen Sie mit hinter die Absperrung“
abfängt.
Auch rauchen wir im Justizpalast heimlich auf der Toilette, was wir zuletzt
als Teenager an der Oberschule gemacht haben. Den Großteil seiner
Arbeitszeit gemeinsam an einem Ort zu verbringen schweißt zusammen. Der
Justizpalast Çağlayan ist eine auf 343 Quadratmeter angelegte eigene Stadt,
verteilt auf 16 Stockwerke mit Kita, Friseursalon, Markt, Krankenstation,
Wachstation, Einwohnermeldestelle, Buchhandel, Postamt, Bank, Cafés und
Erholungszentren. Auf einigen Terrassen sind wir Stammgäste, und in den
Cafés begrüßt uns die Bedienung mit einem „So wie immer?“.
## Die Verhaftungsmaschinerie aus dem sechsten Stock
Ich habe eine widersprüchliche Beziehung zur Justiz und zu der Art von
Journalismus, den ich hier mache. Bevor meine Kollegen und Freunde
verhaftet wurden, arbeitete ich hier gerne. Wenn ich aber heute an den
beiden Justitia-Statuen vorbeigehe, die am Eingang Besucher empfangen,
überkommt mich ein hysterisches Lachen.
Im sechsten Stock des Justizpalastes arbeitet eine ganze
Verhaftungsmaschinerie. „Wir sind hier und kämpfen weiter“, lautet unsere
Botschaft, wenn wir unseren Freunden, die nach ihrer Fließbandverurteilung
ins Gefängnis gebracht werden, zum Abschied winken. Dann verfällt dieses
gigantische Gebäude, das mich an den bücherfressenden Zerstörer aus der
„Sehnsucht des Vorlesers“ von Jean-Paul Didierlaurent erinnert, für einen
Moment in den Schlaf – bis zur nächsten Verhaftung.
Aus dem Türkischen von Canset İçpınar
4 Dec 2017
## AUTOREN
Canan Coşkun
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Schwerpunkt Türkei
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