# taz.de -- Verhandlungen zur Jamaika-Koalition: Der smarte Mister X | |
> Christian Lindner ist die unbekannte Größe bei den Jamaika-Verhandlungen. | |
> Wenn jemand das Bündnis platzen lässt, dann er. | |
Bild: „Wir gehen nicht an den Kühlschrank und nehmen anderen die Sachen weg�… | |
BERLIN taz | Christian Lindner braucht ein bisschen, um sich seine FDP in | |
einer WG vorzustellen. Wenn ein Jamaika-Bündnis eine Wohngemeinschaft wäre, | |
fragt ein Journalist am Montag, was für ein Typ wären die Freidemokraten? | |
„Wir gehen nicht an den Kühlschrank und nehmen anderen die Sachen weg“, | |
antwortet Lindner. „Und wir spülen unser Geschirr ab, wenn wir es benutzt | |
haben.“ | |
Verlässlich, rechtschaffen und konstruktiv. Lindner schafft es, auch | |
abseitige Fragen für seine wichtigste Botschaft zu nutzen: Die FDP ist der | |
Hort der Vernunft. Aber ist sie das wirklich? Manche Verhandler bei CDU und | |
Grünen haben Zweifel. Lindner ist eine unbekannte Größe. Mal tut er | |
konziliant, mal denkt er laut über Neuwahlen nach. In der Klimapolitik | |
profiliert er sich gerade als Hardliner. | |
Wenn jemand Jamaika platzen lasse, diese These hört man oft, dann die FDP. | |
Das bedeutet, dass die Entscheidung am Ende bei Lindner allein läge. | |
Schließlich ist alles auf ihn zugeschnitten. Ohne Lindner ist die FDP | |
nichts. Will der smarte 38-Jährige diese Koalition wirklich? Oder arbeitet | |
er heimlich auf das Ziel hin, sich in der Opposition zu profilieren? | |
Am Dienstag gab sich Lindner versöhnlich. Er begrüßte das Kompromissangebot | |
der Grünen beim Verbrennungsmotor, vor allem aber [1][das beim | |
Kohleausstieg]. Offenbar bekomme die Versorgungssicherheit bei den Grünen | |
mehr Bedeutung, lobte er. Und räumte im gleichen Atemzug ein, dass die FDP | |
zur Kenntnis nehmen müsse, dass es für eine Steuerreform im Umfang von 30 | |
bis 40 Milliarden Euro keine Mehrheit gebe. Lindner wirkte plötzlich wie | |
ein Staatsmann. Doch er kann auch anders. | |
Am Wochenende waren vor allem Drohungen zu hören. FDP-Vize Wolfgang Kubicki | |
sagte, in der nächsten Woche müssten Kompromisse gefunden werden – „oder | |
die Veranstaltung ist zu Ende“. Lindner betonte in den Zeitungen der | |
Funke-Mediengruppe, die FDP habe „keine Angst vor Neuwahlen“. Wenn die FDP | |
sich mit ihren Positionen nicht in einem Koalitionsprogramm wiederfinden | |
könne, werde sie in die Opposition gehen. „Dafür nehme ich jeden Shitstorm | |
in Kauf.“ | |
## Trauma im Nacken | |
Dass ein FDP-Chef offen droht, das Regieren sein zu lassen, ist neu. Die | |
FDP ging in der Vergangenheit stets pragmatisch mit Macht um. Sie griff | |
nach ihr, wo es möglich war, auch mit wechselnden Partnern – ob in einer | |
sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt oder im schwarz-gelben Bündnis | |
unter Helmut Kohl. | |
Hinter Lindners markigen Sprüchen verbirgt sich die Angst, am Ende wieder | |
als Chef einer Umfallerpartei dazustehen. Ihm sitzt ein Trauma im Nacken. | |
2009 führte Guido Westerwelle die euphorische FDP mit großmäuligen Ansagen | |
in die Koalition mit Merkel. Ministerämter lockten, dass die fulminanten | |
Steuersenkungen, die die FDP ihren Wählern versprochen hatte, chancenlos | |
waren, rechnete keiner so genau durch. Am Ende flog die FDP aus dem | |
Parlament. | |
Was man bei der FDP-Psychologie ebenfalls nicht vergessen darf: Vom | |
Verschwinden der bürgerlichen Konkurrenz profitierte damals vor allem | |
Merkel. Mehr als zwei Millionen ehemalige FDP-Wähler liefen 2013 zur Union | |
über. So etwas, das weiß Lindner, darf der FDP nicht noch einmal passieren. | |
Dann wäre sie erledigt. | |
## Distanz zu Merkel | |
Mit Sticheleien markiert er immer wieder Distanz zu Merkel. Glaube bloß | |
niemand, die FDP habe das Regieren nötig. Da wäre etwa der Poker um das | |
Finanzministerium. Lindner hat in Interviews immer wieder die Bedeutung des | |
Finanzressorts hervorgehoben, allerdings ohne einen klaren Anspruch | |
anzumelden. Jede Partei, sagte er zum Beispiel nach der Wahl, könne es | |
übernehmen, nur nicht die CDU – andernfalls werde durchregiert. Ob Lindner | |
selbst Minister werden will oder lieber als Fraktionsvorsitzender den | |
Bundestag bespielen würde, ist offen. | |
Auch die Kanzlerin bekam ihr Fett ab: Im Stern wies Lindner darauf hin, | |
dass in der CDU eine Debatte über die Merkel-Nachfolge beginnen werde. | |
Solche Sätze sind kleine Provokationen. Sie sollen selbstbewusst wirken und | |
Spielräume öffnen. Lindner tänzelt allerdings auf einem schmalen Grat. | |
Demonstrative Coolness steht immer auch im Verdacht, Unsicherheit zu | |
verbergen. | |
Die FDP, heißt es bei den Grünen, sei inhaltlich schlecht munitioniert – | |
und greife auch in internen Runden auf Wahlkampffloskeln zurück. Die | |
Freidemokraten haben, anders als die anderen Parteien, im Bund keinen | |
Apparat hinter sich, keine Fraktion mit Fachpolitikern und Referenten. | |
## Lindner ignoriert sämtliche Studien | |
Wie sich das auswirken kann, zeigt sich beim Klimaschutz. Lindner | |
bezweifelt öffentlich die „physikalische Machbarkeit grüner Energiepolitik�… | |
– und ignoriert dabei sämtliche Studien anerkannter Institutionen, etwa des | |
Fraunhofer-Instituts. Sie haben detailliert dargelegt, wie der Ausstieg aus | |
der Kohleverstromung gelingen kann, ohne die Versorgungssicherheit zu | |
gefährden. | |
Doch von solchen Details will Lindner nichts wissen, nicht nur auf Twitter, | |
wo er Antworten aus der Wissenschaft auf seine Aussagen einfach ignoriert. | |
Auch bei den Sondierungen weichen die Liberalen aus, berichtet jemand, der | |
mit am Tisch sitzt: „Die FDP vermeidet detaillierte inhaltliche | |
Diskussionen, weil sie darauf nicht vorbereitet ist“, heißt es. „Es fehlt | |
da einfach an Expertise.“ | |
Das Zweite, was fehlt, ist Vertrauen. Auch zwischen Union und Grünen gibt | |
es viele Differenzen, doch man kennt sich aus gemeinsamen Jahren im | |
Bundestag, pflegt teilweise Freundschaften und redet zumindest abseits der | |
Mikrofone offen miteinander. Die FDP war aus diesen informellen Netzwerken | |
ausgeschlossen. Drei Viertel der FDP-Abgeordneten sind Neulinge. „Man kennt | |
teils sich einfach gar nicht“, heißt es in Kreisen der Sondierer. | |
Über den Grund für Lindners harte Haltung beim Klima wird gerätselt. Die | |
wenigen verbliebenen Kohlekumpel gehören nicht zur FDP-Kernwählerschaft; | |
die moderne, digital ausgerichtete Wirtschaft, die Lindner umwirbt, steht | |
hinter dem Ausstieg, den am Mittwoch ein Bündnis von 50 Unternehmen, von | |
Adidas über Nestlé bis zur Telekom forderte. „Eine Vorreiterrolle beim | |
Klimaschutz ist eine große Chance für die Innovationskraft und | |
Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft“, heißt es in der Erklärung. | |
Eigentlich eine Vorlage für die FDP. | |
## Aus der Opposition heraus kritisieren | |
Warum die Verweigerung? Entweder geht es dem FDP-Chef darum, sich das Ja zu | |
den Klimaschutzzielen, ohne die die Grünen nicht in die Koalition gehen | |
werden, möglichst teuer abkaufen zu lassen. Wenn es keine Kompromisse | |
innerhalb der Themenblöcke gibt, sagen Verhandler, würden am Ende Themen | |
gegeneinander verdealt: Wenn die Grünen sich beim Klima durchsetzen, | |
bekommt die FDP an anderer Stelle ihren Willen – etwa dem Abbau des Solis. | |
Oder, so vermuten seine Verhandlungspartner, Lindner legt es darauf an, die | |
Gespräche platzen zu lassen – um aus der Opposition heraus kritisieren zu | |
können. „Die Freien Demokraten haben auf jeden Fall am wenigsten zu | |
befürchten“, sagt FDP-Vize Kubicki mit Blick auf Neuwahlen. Damit könnte er | |
richtig liegen. Würde die FDP ein Bündnis am Klimaschutz scheitern lassen | |
und behaupten, diese Koalition bedrohe den Industriestandort Deutschland, | |
käme das bei ihrem Klientel gut an. Die Grünen gelten hier oft noch als | |
realitätsfremd. Und die unerfahrene FDP-Truppe ließe sich in der Opposition | |
auch leichter stabilisieren. | |
Ob Lindner in die Jamaika-WG einziehen will, weiß wohl nur er. Vielleicht | |
weiß er es selbst noch nicht. | |
7 Nov 2017 | |
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[1] /Klimapolitik-bei-Jamaika-Sondierungen/!5460442 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
Malte Kreutzfeldt | |
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