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# taz.de -- Temporäre Musikalische Zone: Horror der Leere
> Das Bremer Theater experimentiert mit zeitgenössischer Musik – im
> jüngsten Teil der Reihe entlang von H. P. Lovecrafts Gruselklassiker
> „Pickmans Modell“
Bild: Führung durchs Museum mit Terror im Ohr
Da steht man so vor ein bisschen Plane herum und bekommt es nach einer
halben Stunde dann doch mit der Angst zu tun. Drunter soll ein
schockierendes Kunstwerk stecken, von einem Wahnsinnigen erschaffen, der
sich seine Inspirationen im Darknet sucht: Snuffvideos, Kinderpornos, … Der
Audioguide gibt vor der angekündigten Enthüllung dieses Werks nur
Andeutungen. Dass es einen nun tatsächlich gruselt, ist umso erstaunlicher,
da es diesen Künstler namens Pickman gar nicht gibt. Und auch, weil diese
Enthüllung eine Performance ist, die sich ausdrücklich auf einen
phantastischen Text bezieht, auf einen ziemlich angestaubten noch dazu: von
H. P. Lovecraft nämlich.
Regisseur Levin Handschuh, der in Bremen bereits seinen dritten Lovecraft
inszeniert, hat dieses Mal das Theater verlassen und ist ins benachbarte
Gerhard-Marcks-Haus umgezogen. Und da steht das Publikum nun zwischen
abstrakten Stahlskulpturen und schaut auf diese Plane. Für die übrigen
Museumsgäste sieht das ganz harmlos aus, weil sie ja von dem Terror nichts
mitbekommen, der in den Kopfhörern tobt.
Die Auszüge aus dem Lovecraft-Text sind kaum mehr zu verstehen unter der
Musik: eine Soundcollage aus Industrial-Geballer von Akira Yamaoka, das
sich geschickt mit Kompositionen und Samples von Hans Zimmer und David
Lynch verschachtelt. „Pickmans Modell“ ist die siebte Ausgabe der
Temporären Musikalischen Zone, die mit wechselnden Akteuren seit 2014 Neue
und neueste Musik ins Theater bringt.
Während sich gerade die dezenteren Beats mit dem Herzschlag
synchronisieren, verstärkt sich die aufgeputschte Erwartung auf die
Offenbarung von Pickmans Skulptur. Da scheint sich im Schatten die Plane zu
bewegen, pulsiert vielleicht ein bisschen. Aber klar, das tut irgendwann ja
jede weiße Fläche, wenn man sie nur lang genug anstarrt.
Die Angst vor dem Unbekannten ist Lovecrafts Kernkompetenz. Als wohl
wichtigster Autor des kosmischen Horrors hat er in den 1920er- und
1930er-Jahren die Gruselliteratur von Vampiren und Co. befreit und die
Bedeutungslosigkeit des Menschen im unendlichen All zum Thema gemacht. Dass
dort oben Tentakelmonster hausen, ist dabei Nebensache. Wichtig ist: Wir
können nicht verstehen, was da draußen vorgeht, und wer es versucht – wird
wahnsinnig. So eben auch Pickman, der die Monster aus den Tunneln unter der
Stadt gesehen hat und sie so zu malen versteht, dass einem Angst und Bange
wird. Soweit Lovecraft.
In Handschuhs Fassung steigt der Wahnsinnige nun nicht mehr in den Keller
hinunter, sondern surft nächtelang durchs Darknet. Auch so ein Mythos, wenn
auch mit wahrem Kern.
Lovecraft sei heute der „Autor der Stunde“, sagt Handschuh. Und mit dieser
Einschätzung ist er nicht allein. Nach Jahrzehnten nerdiger Rollenspiele
und Trash-Filmen hat die HBO-Serie „True Detective“ Lovecraft mit frischem
Dreh in die Unterhaltungsbranche katapultiert, Literaturwissenschaftler
kümmern sich seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum um den
Pulp-Autoren und selbst in der Philosophie begeistern sich nicht nur die
Akzelerationisten im Merve-Verlag für den „kosmischen Horror“ – für den
Gedanken also, dass die Menschheit nicht das Maß der Dinge ist, sondern
bestenfalls ein Staubkorn in der Unendlichkeit.
Diesen Kerngedanken entfaltet Lovecraft in einem komplexen und bewusst
widersprüchlich gehaltenen Amalgam aus Gruselmotiven, Science-Fiction,
(zutiefst rassistischer) Ethnologie und Schwarzer Magie. Oder bei Pickman
eben: Kunst. Die Performance nimmt das Motiv und fächert es auf: Da ist
Pickman, die Museumsführung, da sind die Zitate in der Musik, die schon für
sich komplexen Verweise in den Skulpturen des Österreichers Michael Kienzer
drumherum – überhaupt dieser Ort: andere Museumsbesucher, mal sichtbar,
meist jedoch nur als hallende Schritte aus den Nebenräumen.
All das schafft einen Resonanzraum, wenn man so will, für die unsichtbare
Extremkunst unter der Plane. Was einen da schockt, sind die eigenen
Assoziationen mit dieser verrückten Idee vom Darknet und eben dem
Schlimmsten, was man sich so vorstellen kann.
Das wirkt vielleicht auch gerade deshalb, weil der Rahmen so lustig ist:
Diese Fake-Dokumentation im Arte-Kulturschrott-Ton, die vorher lief, wo
Bassbariton und Kammersänger Loren Lang einen herrlich verschrobenen
Pickman vor Bremer Kulisse gibt. Oder Handschuh selbst als mittelmäßig
enthusiastischer Museumführer, der einem zum Ende noch so leichtfertig
„dann einen schönen Abend noch“ wünscht – als wäre nichts gewesen. Das
ganze Drumherum tut jedenfalls erfolgreich so, als hätte es den Ernst der
eigenen Sache gar nicht so richtig verstanden. Und was gruselt einen schon
mehr als das Gefühl, im Angesicht des Horrors so richtig allein zu sein?
Di/Mi, 24./25.10., 20, 20.30 und 21 Uhr, Gerhard-Marcks-Haus Bremen.
Anmeldung erforderlich unter [email protected]
21 Oct 2017
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
Theater Bremen
Gerhard Marcks
Experimentelle Musik
Musik
Performance
Darknet
Horror
Literatur
Schwerpunkt Rassismus
Kino
Gerhard Marcks
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fortschreiben. Die taz hat sich dabei von H. P. Lovecraft inspirieren
lassen.
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