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# taz.de -- Adventure Game „Sunless Sea“: Die Klippen des Wahnsinns
> In „Sunless Sea“ kann man seine eigene Schauergeschichte im dunklen Ozean
> fortschreiben. Die taz hat sich dabei von H. P. Lovecraft inspirieren
> lassen.
Bild: Ganz schön nah am Wahnsinn gebaut: „Bonny Reefs“, die „hübschen R…
Das letzte Manöver war ein Fehler. Das Dampfschiff schlingert, ein
Fledermausschwarm knallt gegen die Steuerbordseite. Die Laternen erlöschen.
Der eiserne Rumpf knirscht. Ein weiterer dumpfer Schlag folgt, dann ist die
Seefahrt vorbei. Schwärze wogt über die Stelle hinweg, die kurz zuvor noch
die Lichter des Boots ausgeleuchtet haben. Am unteren Ende des Bildes
krault eine große gelbe Krabbe durchs Bild. Doch auf den Schiffbruch folgt
die Wiedergeburt. Die Reise durch die düstere Inselwelt von „Sunless Sea“
beginnt wenig später erneut.
Denn das Anfang Februar erschienene Adventure basiert auf dem
Permadeath-Prinzip: Speichern ist nicht erlaubt, wer stirbt, muss das Spiel
von vorn beginnen. Wiederkehrender Geburtsort und ewiger Heimathafen für
jeden untoten Kapitän ist das von zahllosen Mythen umrankte „Fallen
London“.
Der düstere, durch viktorianische Reminiszenzen verzierte Ort liegt an
einer Küste unter der Erde. Dereinst, so will es die Steampunk-Legende des
Spiels, verfrachteten unzählige Artgenossen der oben erwähnten schwarzen
Flieger mit Torpedoqualitäten, die Metropole en bloc in eine gigantische
Zisterne. Der tiefer gelegte, grün-schwarze von gedimmten Leuchtbojen
durchzogene Ozean verfügt neben der Atlantis-Partnerstadt über allerhand
eigenartige Archipelketten.
Sonnenlicht gibt es nicht, aber sonst alles, was das historisch-nautische
Ensemble so hergibt: Piraten, ziemlich tödliche Seeungeheuer, rettende
Leuchttürme sowie einige verschrobene Seefahrer und zahllose von Rätseln
durchzogene Geschichten. Das narrative Universum von „Sunless Sea“ – das
Spiel ist bisher alleinig auf Englisch erschienen – speist sich äußerst
kleinteilig aus den frostigen Unheimlichkeiten der anglo-amerikanischem
Gothic Novel.
## Das Konzept der „kosmischen Angst“
Doch nachdrücklich dominant für die vielen maritimen Handlungsstränge, die
es zu entdecken gilt, erweist sich die Motivik des Horrorexperten H. P.
Lovecraft. Lovecrafts Konzept „kosmischer Angst“ wabert fortwährend über
die unterirdischen Klippen, die es für den Spieler zu umkurven gilt.
Der 1937 gestorbene US-Schriftsteller, dessen Qualitäten als Autor erst
nach seinem Tod von einer wachsenden Leserschaft und der
Literaturwissenschaft entdeckt wurden, definierte 1927 in der Studie
„Supernatural Horror in Literature“ die zentrale Eigenschaft eines
gelungenen „unheimlich-übernatürlichen“ Textes: „Eine bestimmte Atmosph…
atemloser und unerklärlicher Furcht vor äußeren, unbekannten Mächten muss
vorhanden sein, und die schrecklichste Vorstellung, die das menschliche
Gehirn befallen kann – nämlich die Vorstellung von der unheilvollen und
punktuellen Aufhebung oder Ausschaltung jener unveränderlichen
Naturgesetze, die unseren einzigen Schutz gegen die Attacken des Chaos und
der Dämonen […] darstellen –, muss angedeutet und mit einer dem Gegenstand
angemessenen Ernsthaftigkeit und Gewichtigkeit zum Ausdruck gebracht
werden.“
„Sunless Sea“ löst Lovecrafts Devise gleich auf unterschiedlichen Ebenen
ein. Das Spiel selbst entwickelt sich performativ als fortzuschreibende
Schauergeschichte – beginnend mit dem Zusammenbasteln des eigenen
Charakters. Folgt man etwa der Zielvorgabe „Poet“, so gilt es, möglichst
viel Seemannsgarn anzuhäufen, um sich später als erfahrener Kapitän in
„Fallen London“ niederzulassen und ein veritables Meisterwerk zu verfassen.
Kurzum: viel reisen, viel erleben und nach Möglichkeit nicht kentern.
## Permadeath
Einfach ist das keineswegs, denn man ist als Schiffseigner abhängig von der
Menge an stetig schwindenden Ressourcen wie dem Brennstoff für die
Dampfmaschinen oder den Nahrungsvorräten sowie der Währung „Echos“. So ka…
man etwa leidlich lohnenswert einen Mumienkult verfallenen Sektenanhänger
(„Tomb-Colonist“) – nette Lovecraft-Anspielung – zum gewünschten Zielh…
gen Norden verschiffen, muss aber arg auf lebendige Eisberge aufpassen, die
dem eigenen Kahn bedrohlich nahe kommen, während einem Monsterkrabben am
Heck hängen.
Geht einem auf offener See das Futter aus, fern der zahlreichen Häfen,
herrscht von Angst beseelter „Terror“ an Bord. Die gleichnamige Anzeige
steigt bis in den roten Bereich. Dann wird die Besatzung mundgerecht
zerlegt, der Skipper muss schließlich um jeden Preis überleben.
Folglich hat der Indie-Entwickler Failbetter Games, der das Spiel mithilfe
einer Crowdfunding-Kampagne via Kickstarter bereits im September 2013
finanzierte, einen passenden Gameplay-Appell mitgeliefert: „Loose your
mind. Eat your crew.“ Allerdings gewährt die Kannibalismus-Episode dem
Spieler nur einen kleinen Aufschub.
Bald geht’s wieder von vorne los – Permadeath.
## Interaktive Graphic Novel
Doch die eigentliche Stärke des Spiels ist, neben der detaillierten,
comicartigen und in Brettspieloptik daherkommenden Grafik, die Vielfalt an
kleinen und großen Handlungssträngen. Es gilt Aufträge zu erfüllen und sich
durch zahlreiche Textmenüs durchzuklicken, jede Entscheidung, die
getroffenen wird, verändert zwangsläufig den Verlauf der eigenen
Schauergeschichte.
Zumal generell Nachrichten als profitables Handelsgut dienen. An Gerüchten,
die sich auch schlicht von dem einen Hafen in den anderen weiterverfrachten
lassen, ist insbesondere die zahlungskräftige Admiralität in „Fallen
London“ daran interessiert, was sich auf den zerstückelten Landmassen der
dunklen Meereslandschaft so tut. Mit dem verdienten Geld lässt sich dann
das Boot aufmöbeln, wenn das Salär nicht gar für ein neues besseres Modell
reicht.
Letztlich funktioniert „Sunless Sea“ als interaktive Graphic Novel. Das
Spiel verwaltet als digitale Bibliothek ein famoses Universum an
fantastisch-unheimlichen Geschichten. Bei welchen Büchern man zwischen
„Mutton Island“, „Pigmote Isle“ und „Venderbight“ zugreift, bleibt …
selbst überlassen. So mag es den geneigten spielenden Lesern ergehen wie
der Hauptfigur Lovecrafts, in dessen einzigem, zu Lebzeiten erschienenem
Buch, „The Shadow over Innsmouth“: „Die Spannung äußersten Grauens begi…
sich zu lösen, und ich fühle mich auf sonderbare Weise in diese Meerestiefe
hinabgezogen, anstatt sie zu fürchten.“
3 Mar 2015
## AUTOREN
Jan Scheper
## TAGS
Theater Bremen
Kickstarter
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Spiele
Kirche
Civilization
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