# taz.de -- Rügen vor der Bundestagswahl: Im Reich der Wahlkönigin | |
> Auf Rügen sind alle chancenlos, bis auf die Direktkandidatin Angela | |
> Merkel. Die AfD hat trotzdem großen Erfolg. Warum? | |
Bild: Frech verspielt: Merkel 2016 bei einem Auftritt in ihrem Wahlkreis Saßni… | |
SAßNITZ taz | Es ist ja nicht so, dass Rügen nur schön aussieht. Im Sommer, | |
okay, werden selbst die ungefegtesten Ecken noch vom Grün der Bäume, | |
Sträucher und Rabatten überstrahlt. Bergen, das Dörflein, Binz, das | |
besuchervollgeknallte Rimini des Nordens, oder Altefähr am Ende der Insel, | |
gegenüber von Stralsund – das sind schon feine Flecken in der Republik. | |
Hier herrscht seit ewigen Zeiten Angela Merkel, und zwar nicht die | |
Kanzlerin, sondern die Direktkandidatin in jenem Teil Vorpommerns, zu dem | |
eben auch Rügen zählt. | |
Alle anderen sind natürlich chancenlos, sie, die Kanzlerin, ist hier so | |
fraglos, wie es irgend geht. Der Zweitbekannteste ist ein Mann, dessen | |
Partei vor vier Jahren den Einzug in den Bundestag eher knapp als deutlich | |
verpasste – das ist Leif-Erik Holm von der AfD, Fraktionschef seiner Partei | |
im Schweriner Landtag. | |
Aber gemessen an den Wahlschildern in Saßnitz, Rügen, ist er der local | |
hero: Majestätisch groß sind die Schilder der Alternative für Deutschland, | |
die größten unter allen, drei mal drei Meter – das ist auf gar keinen Fall | |
zu übersehen. Die AfD ist ja ohnehin ein Faktor auf Rügen, überhaupt in | |
dieser Gegend der Republik, nicht ganz so dominant wie auf Usedom, aber | |
doch fast. Rügen, in materieller Hinsicht ganz unverständlich, ist die | |
Insel starker Popularität dieser rechten Partei. Die anderen – ob nun FDP | |
oder Grüne, ob nun irgendeine marxistisch-kommunistische Freakformation: | |
ganz unwichtig. | |
## Was ist da schief gelaufen? | |
Jörg Piecha, Jahrgang 1951, geboren und aufgewachsen in Erfurt, kam in den | |
Achtzigern nach Rügen, genauer gesagt nach Saßnitz, dem Hafenstädtchen, von | |
dem aus Fähren nach Trelleborg übersetzen, bis zur Wende nur Bundesbürgern | |
erlaubt. Er hat viel in der Kommunalpolitik mitgemischt, kennt Rügen bis | |
zum letzten Dorf, kennt den Hader, den Zwist, das Wachstum der | |
Touristenströme, die Kämpfe um Zukunft … kurz: Er weiß wirklich, was | |
Partizipation ist. Hat in allen möglichen Gremien und Ausschüssen | |
mitgemacht, mitgesprochen und gestritten, geworben und verführt. „Auf dass | |
Saßnitz sich selbst ernst nimmt in den Zeiten der Demokratie“, wie er sagt. | |
So wundert er sich nur, dass die AfD nun ausgerechnet diesen Punkt in ihrer | |
Agitation so stark macht: „Die, die bei denen jetzt sitzen und mangelnde | |
Teilhabe beklagen, waren doch genau diejenigen, die, als es kommunale | |
Entscheidungen ging, nicht dabei waren.“ Wobei er anfügt: „Das ist nur | |
meine private Meinung.“ Damit will er sagen: Seine Partei, die SPD, der er | |
mit glühendem Demokratenbewusstsein mit der Wende beitrat, ist auf Rügen | |
auch rätselnd, ob sie etwas mit der Partizipation falsch gemacht habe. | |
Nein, sagt Jörg Piecha, der mit dem Ruhestand inzwischen im graswurzeligen | |
Mehrgenerationenprojekt im Grundvighaus arbeitet, „ich frage mich ja auch, | |
was die AfD so interessant macht – gerade bei Leuten, die sonst nicht | |
mitmachten“. Jedenfalls dominiert diese Partei den Wahlkampflook des | |
Städtchens – fett. Die Plakate der anderen Parteien sind oft verschmiert, | |
gern, geschlechtsunabhängig, mit dem Signum des Hitlerbärtchens. Piecha | |
rät den Seinen, Freunden und Weggefährten, auf keinen Fall Vergeltung zu | |
üben. „Wenn die AfD-Plakate verunziert werden, jammern die doch bloß und | |
sagen, na, guckt mal, so werden wir beschmutzt. Das darf nicht sein.“ | |
## Keine Probleme – eigentlich | |
Ja, es ist seltsam, dass auf dieser Insel, die Wahlkreiskönigin Merkel nur | |
selten sieht, eigentlich alles gut läuft. Die Tourismuszahlen – für die | |
allermeisten auskömmlich; das Handwerk – vollbeschäftigt; die EU – als | |
Sponsor für etliche Projekte rührig, etwa für den schmuck geschwungenen | |
Balkonweg vom ästhetisch üblen Rügenhotel runter zum alten Fährhafenrand, | |
der von einer Fülle von Restaurants und Kramläden gesäumt wird. Alles sehr | |
akkurat und Zufriedenheit versprechend, wenngleich auffällt, dass Menschen, | |
die nicht wie indigene Deutsche aussehen, eher nicht so oft zu sehen sind. | |
Selbst vor einem Jahr, als wir in Saßnitz mit taz.meinland zu Gast waren | |
und die halbe Insel, jedenfalls ihre entscheidende Prominenz dort beisammen | |
saß, wusste niemand so recht zu benennen, was schlecht laufe auf Rügen. | |
Prora – diese Betonkulisse am Strand gen Binz, erbaut während der NS-Zeit, | |
vor Kurzem noch monströs voller history bad vibrations: inzwischen zu | |
Eigentumswohnungen parzelliert und zum Angeberinvestorenprojekt aufgefönt. | |
Nichts läuft schief, das wirklich streckenweise elende Ruhrgebiet oder | |
manche Viertel in anderen Gegenden mit schwindender Industrie sind so fern | |
wie Finnland, also sehr. | |
Und andererseits scheint man auf Rügen die Hälse auch nicht vollzukriegen: | |
will schnelle Straßen, beklagt dann aber den fehlenden öffentlichen | |
Nahverkehr; will öko sein und befördert zugleich Ausbaupläne in Mukran, dem | |
Fährhafen; will Tante-Emma-Lädchen auf den Dörfern und kauft doch nur in | |
Einkaufszentren. Deutsche Zwiespältigkeit aus wohlfeiler Meckerei und | |
penibler Mehr-vom-Gleichen-Wünscherei. | |
Merkel wird den Wahlkreis wieder gewinnen, wer Gegenteiliges behauptet, | |
missversteht die Ruhe, die sich über jede Regung auf Rügen gelegt hat. Ob | |
die AfD fast an sie heranreicht, muss sich weisen: Es wäre kein Wunder. | |
4 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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