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# taz.de -- Vor der Wahl in Grimma: Die Kümmerer
> Jung und alt, links und rechts: In Grimma hält der Bürgermeister alle
> zusammen. Hier geht es nicht um Parteien, aber trotzdem um Politik.
Bild: Nichts los? Nach Wahlkampf muss man in Grimma suchen
Erinnerungsstück aus DDR-Zeiten: Ein ungenutztes Gebäude mit der
verblassten Aufschrift „Grimma Bahnhof“ wirkt, als lade es in eine
Geisterstadt ein. Doch zahlreiche verkleisterte Plakate, wüste Graffiti und
Aufkleber lassen auf den zweiten Blick erahnen, dass hier Neues auf Altes
trifft. Neben dem Altbau steht unscheinbar, fast bescheiden und dabei in
seiner Klarheit bestechend funktional, ein moderneres Häuschen der
Mitteldeutschen Regiobahn.
Zuerst erinnert Grimma an grimmig, alsbald ist es einladend. 35 Kilometer
von Leipzig entfernt liegt eigenständig verankert die Stadtgemeinde.
Generationen rückten zusammen, als Hochwasserfluten 2002 und 2013 drohten
die Stadt an der Mulde unterzukriegen.
Am Ortsrand bemühen sich links und rechts Kleinstparteien um Wahlwerbung.
SPD, Linke und CDU sind zurückhaltend vertreten und grün sind hier nur
Ampeln, Eiskugeln, Parks und das Flussufer. FDP und AfD sind im Stadtbild
nicht präsent.
Entweder zeigt sich hier sächsische Provinz klischeehaft als vergessenes
Hinterland und steht damit 28 Jahre nach Fall des Eisernen Vorhangs immer
noch für ein Abgehängtsein. Oder aber dieses parteipolitische Vakuum
verweist auf andere Formen des Politikmachens. Ein Besuch in Grimma legt
Zweiteres nahe.
## „Jetzt mal auf großer Ebene mitmischen“
Nico Fritzsche und Niels Erlecke sind seit Geburt hier, wollen vor Ort
etwas bewegen, Freiräume schaffen und ein Wiedererstarken von rechts
verhindern. Sie sind 20 und 19 Jahre alt, Studenten. Erlecke sieht
verhalten voraus, dass das Ergebnis der Bundestagswahl für ihn und sein
Umfeld kaum sichtbare Auswirkungen haben werde.
Fritzsche lenkt ein, seine Stimme ist ihm wichtig: „Wir regen uns darüber
auf, was alles falsch läuft, und da finde ich es schon cool, jetzt mal auf
großer Ebene mitmischen zu können.“ Der Sozialstaat werde am ehesten mit
einem breiten Links-Bündnis von SPD, Linken und Grünen gestärkt. Das Ziel
sei, bürokratische Schranken abzubauen für die, die es am nötigsten hätten,
unterstützend Geld vom Staat zu erhalten.
Die beiden jungen Männer sorgen gemeinsam mit anderen im „Dorf der Jugend“
für einen eigenen Gegenentwurf. Ein populäres Jugendzentrum – jedenfalls
für jene, die nicht auf völkischen Krawall oder gar offenes Neonazitum
stehen. Sie setzen auf Herausbildung politischen Bewusstseins, hier an der
Schnittstelle von Sozialarbeit und alternativen Organisationsformen.
In der Nähe des Rathauses holen sich mittags Schüler*innen des nahe
gelegenen Gymnasiums etwas zu essen. „Look! Another sad kid in a black
hoodie“ – Aufdrucke auf Kapuzenpullovern der Jugendlichen spiegeln
Selbstbild, Haltung und Gemütslage.
## Alles andere als gleichgültig
Eine 17-Jährige gibt zu, dass sie aktuell mehr dazu sagen könnte, was in
den USA politisch los sei. Die Bundesrepublik interessiert nachrangig. Ein
Gleichaltriger mit Smartphone in der Hand sticht heraus: „Mit der
‚Tagesschau‘-App bin ich immer up to date.“
Ein dritter Jugendlicher ist sich der Grenzen der demokratischen
Einflussnahme bewusst und sagt vorsichtig: „Ich würde meine Stimme schon
nutzen, um einem Rechtsruck entgegenzusteuern. Ich beteilige mich dann,
kann aber eben den anderen auch nichts aufzwingen.“ Diese zukünftig
Wahlberechtigten sind nicht vorlaut radikal, aber alles andere als
gleichgültig.
Auch der Oberbürgermeister macht einen engagierten Eindruck. Die
Weltoffenheit Grimmas unterstreicht Matthias Berger mit forsch angebotenem
Händedruck und einem „Nice to meet you“. Nach der Wende sei die Verwaltung
im Aufbau gewesen, „da wurden hier händeringend Leute gesucht“. Auch
deshalb kam Berger nach dem Jurastudium im Westen wieder zurück in die
Heimat. Dann „überraschenderweise als völliger No-Name“ von der CDU
vorgeschlagen und zum Regierungsoberhaupt der Stadt gewählt – ohne
Parteibuch.
## Nur „mit geladener Knarre vorm Kopf“
Diese Neutralität gilt ihm bis heute als Erfolgsrezept. „Auf unterster
Ebene habe ich die Erfahrung gemacht, dass durch Parteizugehörigkeit oft
versucht wird, fehlende Persönlichkeit zu kompensieren.“ Im äußersten
Zweifelsfall müsse er doch noch einer Partei beitreten, aber nur „mit
geladener Knarre vorm Kopf, wenn es um das Überleben der Stadt geht“.
Nach 16 Jahren im Amt ist Berger noch immer kein aufgesetzt seriöser
Anzugträger. Er wolle kein Teil dieser „Politkaste“ werden, die „in ihrer
eigenen Blase, im berühmten Elfenbeinturm, weit weg von den Leuten“
schwebe. Dort drohe die Degeneration.
So ein Politiker füllt durch demonstrative Nähe eine Leere, die anderswo
von populistischen Parteien gestopft wird. Das zeigt, was hier auf
kommunaler Ebene funktioniert: Die große Politik etwas mehr außen vor zu
lassen und die Dinge auf Augenhöhe anzugehen.
7 Sep 2017
## AUTOREN
Lion Häbler
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