# taz.de -- Junge Freiwillige vor der Wahl: Krass unterschiedlich drauf | |
> Ein altes Pionierlager in Brandenburg: 300 Jugendliche bereiten sich auf | |
> ihren Freiwilligendienst im Ausland vor – und diskutieren über die Wahl. | |
Bild: Interessiert, engagiert: Den ErstwählerInnen ist ihre Stimme wichtig | |
WERBELLIN taz | „Hug me!“ – umarme mich – steht auf einem neonpinken | |
Zettelchen, das in der Schorfheide mitten im Wald vom Nieselregen | |
zerfressen wird. Angela Merkel soll hier in der Nähe ein Wochenendhaus | |
haben. In der nächsten Ortschaft trifft man sie angeblich ab und zu im | |
Supermarkt. Hier am Werbellinsee im Norden Brandenburgs laufen heute aber | |
nur Jugendliche zwischen den kasernenartigen beigegrauen | |
Unterkunftshäusern der ehemaligen Pionierrepublik „Wilhelm Pieck“ umher. | |
Ein paar haben sich die Hug-me-Zettel auf die Brust geheftet. Es geht um | |
Selbsterfahrung, darum, Grenzen zu überwinden – im doppelten Sinne: Mit | |
dem Freiwilligendienst „kulturweit“ der deutschen Unesco-Kommission werden | |
die Jugendlichen bald in die Welt aufbrechen. Sie werden an Schulen helfen | |
und in Goethe-Instituten. Vor allem aber sollen sie Eindrücke sammeln und | |
ihre Rolle in der Welt reflektieren. | |
Dreihundert junge Menschen, die kurz davor stehen, als deutsche | |
Kulturbotschafter in die Welt zu reisen – jetzt, zwei Wochen vor der | |
Bundestagswahl, ist die Seminarphase im brandenburgischen Wald also auch | |
ein Biotop von politischer Aussagekraft. 95 Prozent der Freiwilligen sind | |
Abiturienten, ein Auslandsaufenthalt nach der Schule ist noch immer | |
Milieufrage. Nur die, die es sich leisten können, fahren in die Welt. Hier | |
kommt eine Elite zusammen, man ist bestens informiert, die Wahl ist | |
Dauerthema. Weltverbesserungsgeist weht durch das DDR-Ambiente. | |
„Manche hier schauen nicht mal Olympische Spiele, weil sie gegen Nationen | |
sind“, sagt Carolin Büchter, „ich habe hier Meinungen gehört, von denen | |
dachte ich bisher: Wer findet denn so was?“. Die 18-Jährige aus dem | |
Münsterland wird nach Budapest reisen. Per Brief hat sie bereits gewählt: | |
Erststimme CDU, Zweitstimme FDP. Damit ist sie am Werbellinsee eine | |
Ausnahme. Bei einer spontanen Umfrage unter einigen Dutzend Freiwilligen | |
melden sich 18 für die Grünen, 16 bei der SPD, 12 für die Linke und 3 für | |
die CDU. Als sich Carolin Büchter zur FDP bekennt, lacht Hauke Bruns | |
ungläubig. | |
Der 18-jährige Ostfriese ist Mitglied bei den Jusos. „CDU und FDP – das ist | |
für mich soziale Kälte“, sagt Bruns, „die FDP würde niemand wählen, dem… | |
selbst schlecht geht.“ Der Streit bleibt sachlich, aber die Stimmung ist | |
angespannt. „Natürlich geht es mir gut, man muss sich halt einordnen in das | |
soziale Gefüge“, rechtfertigt sich Carolin Büchter, „die eigenen Interess… | |
sollte man schon im Blick behalten dürfen.“ | |
## Bruch der Denkmuster | |
Büchter und Bruns sind sich vor wenigen Tagen zum ersten Mal begegnet, | |
dreihundert Fremde sind hier zusammengewürfelt. Man lernt sich über die | |
Auseinandersetzung kennen. FDP-Wählerin Büchter wirft den linken Parteien | |
„Hauruck-Aktionen“ vor, „die erst super klingen und dann | |
auseinanderbröseln, nicht den Richtigen nützen oder furchtbar teuer | |
werden“. Karl Hoffmann, ein junger Dresdner auf dem Weg nach Mexico-Stadt, | |
mischt sich ein: „Die SPD verspricht soziale Gerechtigkeit, war aber jetzt | |
selbst jahrelang an Regierungen beteiligt.“ Es geht noch eine Weile hin und | |
her. Dann entschuldigt sich Hauke Bruns, dass er zuerst gelacht hat. | |
Carolin Büchter ist froh über den Austausch. Ihr Freundeskreis sei zwar | |
politisch interessiert, aber wie sie konservativ geprägt. „Hier sind viele | |
so krass anders drauf, damit habe ich komplett nicht gerechnet“, sagt sie. | |
Die Tage vor der Ausreise sind ohnehin intensiv für die Jugendlichen. In | |
manchem Seminar geht es ums Sprechen vor Gruppen, in anderen steht | |
Nagellack für die Jungs bereit – Denkmuster durchbrechen vor der | |
Herausforderung Auslandsaufenthalt. Auch Karl Hoffmann, der Dresdner, ist | |
dankbar für die Hürden, die er hier zu nehmen hat. | |
Der schlanke blonde Mann lässt sich gern herausfordern. Er habe die | |
Programme aller relevanten Parteien gelesen, sagt er. Bildungspolitik und | |
Umweltschutz sind ihm die wichtigsten Themen. Christian Lindners Wahlkampf | |
imponiert ihm, entschieden hat er sich aber für die Grünen, „weil das Paket | |
stimmt“. Mit seiner Sorgfalt bei der Wahlentscheidung steht Karl Hoffmann | |
stellvertretend für viele hier. Diese Erstwähler widmen sich ihrer | |
demokratischen Verantwortung mit großer Ernsthaftigkeit. | |
## Die junge demokratische Mittelschicht | |
Bei einigen ist aber auch herauszuhören, wie sehr sie noch in den | |
Zusammenhängen ihrer Elternhäuser stecken. Eine tut sich schwer, sich von | |
der SPD-Tradition der Familie zu emanzipieren; eine andere möchte sich | |
anhand der Parteipositionen zum Thema Düngerverordnung entscheiden, das sei | |
für den Landwirtschaftsbetrieb ihrer Eltern nun mal existenziell. | |
Und die Bundeskanzlerin? Obwohl quasi alle hier aus Haushalten kommen, die | |
Angela Merkels #fedidwgugl-Wahlkampf eigentlich anzusprechen hofft, spielt | |
die Beliebte bei den Gesprächen der Freiwilligen kaum eine Rolle. Mit | |
Inhaltsarmut begeistert man offensichtlich keine ambitionierten | |
Jungdemokraten. Richtig schlecht findet die Kanzlerin aber auch niemand: | |
FDP-Wählerin Carolin Büchter und Juso Hauke Bruns einigen sich am Ende | |
ihres Streits darauf, dass Merkels Entscheidung in der Flüchtlingskrise | |
2015 richtig gewesen sei, „keiner sonst wäre da so souverän geblieben“. | |
13 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Thilo Adam | |
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