# taz.de -- Wuppertal vor der Wahl: Treppab Richtung Armut | |
> In Wuppertal ist jedes dritte Kind von Armut betroffen. Ein | |
> Nachhilfeprojekt will helfen – am liebsten nicht nur bei den | |
> Hausaufgaben. | |
Bild: Wuppertal? Schwebebahn! Vor Ort hat man andere Assoziationen | |
Eine der 469 Treppen Wuppertals – es ist die treppenreichste Stadt | |
Deutschlands – führt nach unten in das ehemalige Arbeiterviertel | |
Langerfeld. Durch die Fensterscheiben eines kleinen Hauses sieht man, wie | |
Kinder und Jugendliche an Tischen sitzen. Sie sind zum Hausaufgabenmachen | |
gekommen. Auf den ersten Blick sieht man nicht, dass sie zu den ärmsten | |
Kindern der Stadt gehören. | |
Im Zimmer nebenan sortieren gerade freiwillige HelferInnen die | |
Lebensmittelspenden. Auf einer langen Tafel liegen Obst und Gemüsekisten. | |
Der Joghurt kommt in den Kühlraum. Aus dem Obst, das schnell verdirbt, | |
machen sie später Marmelade. | |
„Chance! Wuppertal“ heißt das Projekt und die WuppertalerInnen, die hier | |
fest arbeiten oder kommen, um zu helfen, wollen genau das: Kindern aus | |
armen Familien eine Chance geben. Zum Glück gibt es diese | |
Lebensmittelspenden. Franziskanerpater Joachim Stobbe und Thomas Willms, | |
die Leiter der Initiative, brauchen immer mehr davon. | |
Gerade Langerfeld, wo sich das Projekt befindet, hat einen schlechten Ruf | |
in der Stadt. Die StudentInnen und KünstlerInnen wohnen schon lange | |
woanders – auf dem Ölberg zum Beispiel, auf der anderen Seite der Treppen. | |
Hier unten in Langerfeld oder auch nebenan in Oberbarmen sammelt sich die | |
Armut. Brachflächen im Viertel werden heute zwar mit Einfamilienhäusern | |
bebaut – der Ruf ist trotzdem schlecht. | |
## Eigentlich ist jedes Kind willkommen | |
Schuld daran ist unter anderem die Obdachlosensiedlung Hilgershöhe, die, | |
keine 500 Meter entfernt, 2004 wegen Verwahrlosung abgerissen wurde. Viele | |
mehrstöckige Plattenbauten und Unterbringungen für geflüchtete Menschen | |
verschlechterten das Bild bei den WuppertalerInnen. | |
Hier ist jedes dritte Kind von Armut betroffen, das sind 16.000 Kinder. Der | |
Bundesdurchschnitt liegt bei jedem fünften Kind. 130 Kinder und Jugendliche | |
besuchen täglich die kostenlose Hausaufgabenhilfe. Die meisten kommen aus | |
Familien, die Hartz IV empfangen oder nur sehr wenig verdienen. Aber | |
eigentlich ist jedes Kind willkommen. | |
Gerade jetzt, zum Schuljahresbeginn, geraten die Familien im Viertel in | |
Not: Schulmaterialien sind teuer. Trotz eines Zuschusses von 70 Euro | |
durch das Arbeitsamt können sich viele nicht alle auf der Liste der Schule | |
befindlichen Artikel leisten. Auch hier will das Projekt aushelfen. | |
## Es geht um mehr als Nachhilfe | |
Obwohl es sich um eine katholische Initiative handelt, spielt Religion hier | |
keine Rolle. Außer einem Kreuz im Flur findet man kein christliches Symbol, | |
kein Bibelzitat an den Wänden. | |
Magam Quilolo kam immer sehr gerne zur Nachhilfe. Sie ist in Wuppertal | |
aufgewachsen, ihre Eltern kommen aus dem Kongo. In ihrer Kindheit hat sie | |
viel Rassismus erlebt. Das war schmerzhaft, sagt sie. „Aber ich glaube, es | |
hat mich auch stärker gemacht.“ Jetzt ist sie 19 Jahre alt, gerade mit der | |
Schule fertig und immer noch hier: Quilolo gibt selbst Nachhilfe, bald will | |
sie Zahnmedizin studieren. | |
Aber bei „Chance! Wuppertal“ geht es um mehr: Es gibt eine | |
Kinderkochgruppe, Diskussionsrunden für Jugendliche, Sozialberatung, | |
Deutschkurse. Einmal im Monat organisieren Anita Ferizoviqi und Rend | |
Ibrahimein einen Frauentreff. „In meiner Kultur ist es üblich, dass sich | |
Männer und Frauen in getrennten Räumen aufhalten“, ergänzt Ibrahim. „Ich | |
bin als Kind nach Deutschland gekommen, für mich war es leicht, mich daran | |
zu gewöhnen. Aber meinen Eltern fiel das sehr viel schwerer.“ | |
Lücken sehen und Lücken füllen, nennt Stobbe das Konzept. Wo Hilfe | |
gebraucht wird, springen sie ein. Oder versuchen es zumindest. Um | |
wenigstens manche ihrer Probleme zu mindern, findet in dem größten Raum | |
einmal in der Woche eine Lebensmittelausgabe statt. Auch andere Projekte | |
verteilen Essensspenden, doch selbst das ist noch nicht genug. | |
## Wuppertal, die rote Insel | |
Draußen sind die Straßen rot. Von den Laternen lächelt der SPD-Kandidat | |
Helge Lindh. Auch jetzt, kurz vor der Bundestagswahl, sind fast | |
ausschließlich SPD-Plakate zu sehen. Stobbe, der 81-Jährige | |
Franziskanerpater, weiß noch nicht, wen er wählen soll. „Mal sehen. Die | |
Grünen waren mir auch immer sympathisch, aber ich muss sagen: Sie haben den | |
Blick fürs Große verloren“, sagt er. | |
Aber Stobbe sagt auch: „Die SPD spricht in Wuppertal die richtigen Themen | |
an.“ Kinderarmut zum Beispiel. „Die Stoßrichtung von Schulz ist richtig“, | |
sagt er. Martin Schulz fordert mehr Mitspracherecht für den Bund – und | |
verspricht zusätzliche Milliarden für Schulen. „Das Geld muss man auf jeden | |
Fall in Lehrkräfte investieren!“ | |
Selbst hier in Wuppertal, die rote Insel in der unionsstarken Region, | |
gewinnt die AfD an Zuwachs. In sozialen Brennpunkten wie hier, dem | |
Wahlkreis 31 mit den Stadtteilen Langerfeld, Oberbarmen und Barmen, | |
erzielte die Partei 9,9 Prozent bei den Landtagswahlen. | |
Und die Jugendlichen hier, die zum ersten Mal wählen dürfen? Die wissen | |
auch nicht so recht, wem sie ihre Stimme geben sollen. Sie sind noch | |
unsicher – und überlegen teilweise, ob sie es überhaupt tun. „Die sagen: | |
Die Parteien sind doch alle gleich“, sagt Stobbe. In Gesprächen mit dem | |
Pater signalisieren sie: Die AfD hat die schärfste Kontur. Willms und | |
Stobbe versuchen aufzuklären und zu informieren. Auch hier sehen sie eine | |
Lücke, die es zu füllen gibt. | |
15 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Ann-Kathrin Liedtke | |
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