# taz.de -- Hagen vor der Bundestagswahl: Mehr als nur Ödnis | |
> Es heißt, Hagen sei nicht schön und ihre Bewohner*innen seien nicht | |
> glücklich. Doch manchmal lohnt sich ein zweiter Blick. | |
Bild: Etwas grün, viel grau: Nach Hagens Stärken muss man suchen | |
HAGEN taz | Es ist August. Wind treibt Nieselregen bei 14 Grad die | |
Bahnhofstraße hinunter. Die wenigen Fußgänger*innen drängen sich an den | |
Häuserwänden entlang oder suchen spärlichen Schutz unter den Markisen der | |
Dönerläden und Mobilfunkanbietern. | |
Es gibt Menschen, die wissen nicht, wo Hagen liegt, aber wohl dass die | |
Stadt ein Imageproblem hat. Hässlich, pleite und überhaupt ganz | |
uninteressant – dieser Meinung sind manche Hagener*innen sogar selbst. | |
Doch nicht Bolko Klein und Liselotte Kill. Die beiden Pensionäre sitzen | |
einmal die Woche in Hagens Stadtbibliothek und bieten ehrenamtlich | |
Gesprächsrunden zum Deutschlernen an. Als die siebzehnjährige Elahe, die | |
aus Afghanistan hierher zog, sagt: „Die Stadt ist aber so grau“, | |
widerspricht Liselotte: „Hagen gehört immerhin zu den grünsten Städten | |
Deutschlands!“ Elahe meint eigentlich die Menschen, nicht die Straße. | |
Liselotte Kill schweigt betreten. | |
Doch der Schein trüge, sagt René Röspel, Direktkandidat für die SPD: „Die | |
Menschen hier sind zwar etwas bollerig, aber offen.“ Grau sind für ihn hier | |
nur die vielen schlecht gepflegten Häuser und die Tatsache, dass sich hier | |
viele Menschen keine teuren Mieten leisten können. „Hagen ist der schönste | |
Wahlkreis der Welt. | |
## Enormer Wohnungsleerstand | |
Hagen erlebte in den letzten Jahrzehnten eine regelrechte Stadtflucht. | |
Gründe dafür könnten die rund 10 Prozent Arbeitslosigkeit sein. Oder die | |
vielen brachliegenden Industrieflächen, wie die verlassene Zwiebackfabrik | |
der Firma Brandt, die heute mit ihren aufgeplatzten Fassaden zwischen | |
Unkraut dahinvegetiert. | |
Hagen hat außerdem einen enormen Wohnungsleerstand. Eine regelrechte | |
„Vermietermafia“ nutze dieses Vakuum und spiele mit der Not der die | |
Menschen, beklagt Röspel. Sie werben um Zugezogene aus Rumänien und | |
Bulgarien für diese heruntergekommenen Häuser und setzen viel zu hohe | |
Mieten an. Genau dieses Thema nutzt die AfD für sich und inszeniert die | |
Zugezogenen als Problem. Was das für die Nachbarschaft bedeutet – nämlich | |
wachsendes Misstrauen gegeneinander – interessiert die AfD nicht. | |
Jürgen Breuer will das nicht und arbeitet dagegen an. In einem alten, teils | |
grün eingewachsenen Backsteingebäude der ehemaligen Grundschule Nenas, | |
behauptet das Kulturzentrum Pelmke im Stadtteil Wehringhausen seinen | |
alternativen und farbenfrohe Standort. Es liegt auf der Hälfte eines Hügels | |
der Stadt. Je höher man die die Stadt umschließenden Hügel kommt, desto | |
prunkvoller werden die Vorgärten der Häuser aus der Gründerzeit. Oben | |
wartet der Wald. | |
## Warten auf Glanzminuten | |
Breuer leitet das Zentrum. Er sitzt an einem Tisch im leeren | |
Veranstaltungsraum und berichtet von seinen Beobachtungen, dass auch hier | |
die Stimmung zu kippen drohe. Schnell gesagt seien Vorurteile wie „die | |
Buntröcke oder Zigeuner sind es wieder gewesen“. Für ihn ist aber sicher, | |
dass es für diese Ressentiments in seinem Kiez keinen Platz gebe. Im | |
Gegenteil: Die Bewohner*innen möchte das Beste aus ihrer Stadt machen – | |
inklusiv versteht sich. | |
Junge sowie betagte Neu- und Alt-Hagener*innen warten beim Karaokeabend in | |
der Pelmke auf ihre Glanzminuten. Auf Bierbänken sitzend beklatschen und | |
besingen sie sich gegenseitig. Hier gibt es ständig Veranstaltungen, das | |
gemeinsame Singen alle drei Monate gehört zu den beliebtesten. „Hier kommen | |
wirklich alle zusammen“, schwärmt eine Besucherin und stimmt wippend zu | |
Gloria Gaynors Evergreen „I Will Survive“ ein. | |
„Ich werde überleben“ – ein Spirit, den man in Hagen erleben kann. Viele | |
engagieren sich kreativ für ihre Stadt. Im Emil-Schumacher-Museum setzt | |
dessen Leiter, Rouven Lotz, auf Kunst und offene Veranstaltungsformate | |
gemeinsam mit anderen Institutionen. Er will die Bewohner*innen für die | |
Schätze ihrer Stadt sensibilisieren. | |
## „Die Wahlen werden nichts verändern“ | |
Es gibt auch noch die Aktiven der Initiative „Kunst vor Ort“, die | |
zugezogenen Kindern spielerisch Deutsch beibringen.„Denn dort wo es an | |
einer gemeinsamen Sprache fehlt, wird es schnell explosiv“, weiß auch der | |
SPD-Kandidat Röspel. Doch die verschuldete Stadt spart oft gerade an diesen | |
Projekten. „Die Wahlen werden hier nichts verändern“, stellt ein Taxifahrer | |
auf dem Nachhauseweg vom Karaokegedudel resigniert fest. Die Stadt in | |
Eigenregie zu verändern, das hat in Hagen schon lange Tradition. Vielleicht | |
ist das die Lösung. | |
Vor 100 Jahren galt Hagen als Zentrum der Lebensreform und Karl Ernst | |
Osthaus, wohlhabender Kunstmäzen, als Schlüsselfigur. Er dachte über eine | |
Umgestaltung gesellschaftlichen Lebens durch Kunst nach und lud | |
verschiedene Künstler*innen nach Hagen ein, um Kunst und Soziales zu | |
verbinden. Seine Ideen wurden später als „Hagener Impuls“ bekannt. | |
Die 1996 zugezogene Hagenerin Eva Rapp-Frick ist überzeugt, dass die Stadt | |
nach wie vor Impulsgeberin sein kann: „Hagens historische Tiefe und ihr | |
moderner Weitblick machen die Stadt bunt.“ Die Ideen für eine neue | |
Gesellschaft, die historischen Bauten und die Menschen, die diese für einen | |
gemeinsamen Dialog nutzen möchten, sind ja schon da. Deshalb dürften | |
Leerstellen in der Stadt nicht als Defizit verstanden werden, sondern als | |
Räume für Neues, sagt Rapp-Frick. | |
Es tut sich was in Hagen. Der Regen ist verzogen, die grüne Stadt an der | |
Volme leuchtet. | |
12 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Torben Becker | |
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