| # taz.de -- Stadtentwicklung in Delmenhorst: Die vergessenen Mieter | |
| > Einst stand die Siedlung Wollepark für Aufbruch und Moderne. Heute gilt | |
| > sie als sozialer Brennpunkt, nun sollen die MieterInnen raus. | |
| Bild: Während in einigen Wohnblöcken unter teils prekären Umständen gewohnt… | |
| DELMENHORST taz | Der Schandfleck der Stadt befindet sich mitten im | |
| Zentrum. Hinter dem Bahnhof, am Einkaufscenter vorbei, dort, wo Staubwolken | |
| über die Straße ziehen, wo es donnert und hämmert. Schaulustige stehen | |
| neben einem graffitiverschmierten Kondomautomaten am Bauzaun und gucken zu, | |
| wie ein Bagger Fassadenstücke aus einem Wohnblock reist. An manchen Brocken | |
| hängen orange- farbene und blaue Tapetenfetzen. | |
| Als die Bagger im April kamen, hatte sich der Oberbürgermeister der Stadt, | |
| Axel Jahnz von der SPD, vor sie gestellt und von einem historischen Tag | |
| gesprochen. „Endlich kommt der Schandfleck weg!“, sagte Jahnz. Ghetto hatte | |
| man die grauen Blöcke stadtweit genannt, Geisterhäuser oder sozialen | |
| Brennpunkt. Die Stadt hatte sie ersteigert, um sie abzureißen. Denn hier, | |
| im nördlichen Wollepark, einer Plattenbausiedlung aus den Siebzigern, | |
| sollte es einen Neuanfang geben. | |
| Stattdessen kam es zu einem Skandal. In den Blöcken elf und zwölf, direkt | |
| hinter der Baustelle, drehten die Stadtwerke im April das Wasser und Gas | |
| ab, weil Nebenkosten in Höhe von knapp 200.000 Euro nicht beglichen wurden. | |
| Die betroffenen Wohnungen gehören verschiedenen privaten Eigentümern. | |
| Kamerateams reisten an, um vom Elend vor Ort zu berichten. Dass es so etwas | |
| in Deutschland gibt, sagten die Reporter. Man sah Bilder von überquellenden | |
| Hydranten, verzweifelten Mietern und dubiosen Verwaltern in | |
| Mercedes-Limousinen. Lokalzeitungen berichteten von sklavenähnlichen | |
| Beschäftigungsverhältnissen der größtenteils osteuropäischen Mieter, auch | |
| Gerüchte über stundenweise vermietete Matratzen und Zwangsprostitution | |
| kursierten. Die Polizei sprach von einem „Rückzugsort für Kriminelle“. | |
| Vier Monate später fließen immer noch kein Wasser und Gas in den beiden | |
| Wohnblöcken, die Kameras sind abgebaut, und vor einem leer stehenden Kiosk | |
| in der Westphalenstraße im nördlichen Wollepark, gleich neben dem | |
| Nachbarschaftsbüro, steht Mieterin Elisabeth Moos und sagt: „Hier sind | |
| keine schlechten Leute, das ist eine schlechte Umgebung.“ | |
| ## Regelmäßiger Austausch unter den BewohnerInnen | |
| Es riecht nach frisch gemähtem Gras. Die Grünflächen wirken gepflegter als | |
| im südlichen Teil, dort, wo sich die Wohnblöcke elf und zwölf befinden. Die | |
| Spielplätze sind in besserem Zustand. Im Gemeinschaftsgarten des | |
| Nachbarschaftsbüros rupfen zwei Frauen Unkraut aus den Tomatenbeeten, ein | |
| älterer Mann mit Stock schläft auf einem Plastikstuhl. | |
| Einmal im Monat können sich die Bewohnerinnen und Bewohner hier über | |
| Probleme, Fragen und Wünsche austauschen. Heute sind unter den etwa zehn | |
| Mietern Melanie Marczak und ihr Freund René van Ellen. Die 31-jährige | |
| Marczak ist im Wollepark aufgewachsen, vor ein paar Wochen, so erzählt sie, | |
| hat sie ihren Job als Zahnarztassistentin verloren. Ihrem Arbeitgeber war | |
| sie zu lange krankgeschrieben. Dabei ist auch Monika Eller, die 76-Jährige | |
| lebt seit 1986 im Wollepark. | |
| Zwei Quartiersmanagerinnen stellen Filterkaffee und Kekse auf einen Tisch. | |
| An einer Pinnwand hängen zwei Zettel. „Was gefällt mir am Wollepark?“, | |
| steht auf dem einen und darunter „schön grau“ und „Gegend ist schön“.… | |
| dem anderen haben die Bewohner notiert, was sie am Wollepark stört. | |
| „Kriminelle Vermieter“, „Ausbeutung von Osteuropäern“ und „es ist sc… | |
| Wohnungen zu bekommen“. Schnell kommen die MieterInnen miteinander ins | |
| Gespräch: | |
| Melanie Marczak: „Auf der Arbeit sagen sie: 'Wollepark? Das ist ja asozial | |
| da.’ Dabei sind die Wohnungen eigentlich schön. Und es ist grün hier.“ | |
| René van Ellen: „Die Polizei geht hier gegen vermeintliche Drogendealer | |
| vor. Aber in meinen Augen sind das ganz normale Menschen.“ | |
| Monika Eller: „Ich bin vor 31 Jahren hierhergezogen. Da war es so schön. | |
| Heute ist es anders. Seit die Flüchtlinge hier sind, ist es schwierig. Das | |
| sieht man schon an dem ganzen Müll.“ | |
| René van Ellen: „In manchen Wohnungen sind 15 bis 20 Personen. Die Sprache | |
| ist das größte Problem. | |
| ## Früher war die Textilindustrie der wichtigste Arbeitgeber | |
| Früher einmal stand der Wollepark für Aufbruch und Moderne. Vier- bis | |
| fünfzehngeschossige Blöcke, darin 1.300 Wohnungen, „Urbanität durch Dichte… | |
| nannten das die Stadtentwickler. Die heutigen Straßennamen, Zwirnerei, | |
| Kämmerei oder Färberei, zeugen von einer vergessenen Zeit, in der die | |
| Textilindustrie der wichtigste Arbeitgeber war. Etwa 4.000 Menschen | |
| arbeiteten Ende des 19. Jahrhunderts in den Fabriken. Schon damals wurden | |
| Arbeitskräfte aus osteuropäischen Ländern angeheuert. Die jungen Frauen aus | |
| dem heutigen Polen und Tschechien, die hier für 1,50 Mark Tageslohn | |
| arbeiteten, wurden von den Delmenhorstern „Wollmäuse“ genannt. In den | |
| frühen 80ern schlossen die Fabriken, der Wollepark und die Menschen | |
| blieben. | |
| Wann der Wollepark genau zum „sozialen Brennpunkt“, zum „Problemviertel“ | |
| wurde, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich gegen Ende der 90er. Deshalb | |
| wurde er ins Städtebauförderprogramm „Soziale Stadt“ aufgenommen. 2012 | |
| standen so viele Wohnungen leer, dass es kurz so aussah, als würde die | |
| Stadt den Wollepark zumachen. Inzwischen gibt es Wartelisten für die | |
| Wohnungen, viele Migranten wollen hierherziehen. | |
| In einem Protokoll des Bewohnerrats von 2014 steht: Die Zuwanderung aus | |
| Osteuropa ist die „größte Herausforderung“. Es fehlt an sozialer | |
| Infrastruktur für die knapp 3.000 BewohnerInnen. | |
| Zu ihnen gehört auch Daniel Kowalski. Am Abend erhellt Blaulicht die | |
| Wohnblöcke vor der Baustelle. Ein Streifenwagen hält vor dem elften Block. | |
| Beamte kontrollieren ein paar stämmige Männer auf ihren Quads. Aus einem | |
| Pkw dröhnen Balkanklänge. Daniel Kowalski begrüßt die Männer, seine Mutter | |
| Anna kommt dazu. | |
| ## Mieter schämen sich für ihr Viertel | |
| Daniel Kowalski ist 14 Jahre alt und im Wollepark als erfolgreicher | |
| Nachwuchsboxer bekannt. 2014 kam die Roma-Familie aus Polen nach | |
| Deutschland. Letztes Jahr haben sie eine Wohnung im Wollepark bekommen. | |
| Block zwölf, oberster Stock, vier Zimmer. Nicht gerade groß für ihn, seine | |
| vier Geschwister und die Eltern. Aber eigentlich waren sie zufrieden. Bis | |
| im April Wasser und Gas abgestellt wurden. | |
| Daniel Kowalski: „Ich schäme mich zu sagen, dass ich im Wollepark wohne. In | |
| der Schule sage ich immer, ich wohne in der Bremer Straße.“ | |
| Anna Kowalska: „Wo sollen die Kinder duschen, wo aufs Klo gehen?“ | |
| Daniel Kowalski: „Irgendwann kamen die Stadtwerke und haben gesagt, wir | |
| verbrauchen zu viel Wasser. Dabei bezahlen wir jeden Monat.“ | |
| Anna Kowalska: „Die Verwalter haben die Miete jeden Monat in Cash | |
| abgeholt.“ | |
| Daniel Kowalski: „Beim ersten Mal haben sie gesagt, nächste Woche würde ein | |
| Bruder kommen. Dann kam jede Woche ein neuer Bruder. Jetzt haben sie den | |
| Mietvertrag gekündigt. Wir wissen nicht, was mit uns passiert.“ | |
| ## Eine Sanierung der Gebäude scheint nicht mehr möglich | |
| Das bestätigen auch andere Mieter der Wohnblöcke elf und zwölf. Sie | |
| beteuern, die Nebenkosten bezahlt zu haben. Der Oberbürgermeister vermutet, | |
| dass die Hausverwaltung das Geld einbehalten hat. Deswegen habe die Stadt | |
| die Stadtwerke angewiesen, Wasser und Gas abzustellen – bis die Schulden | |
| bezahlt sind. Momentan klagen einige Eigentümer gegen die Stadt | |
| Delmenhorst. Der Vorwurf: Die Stadt sorge absichtlich für die schlechten | |
| Bedingungen, um die Wohnungen billig ersteigern und abreißen zu können. An | |
| diesen Vorwürfen sei nichts dran, erklärt der Pressesprecher der Stadt. | |
| Klar sei aber, dass die Gebäude irgendwann abgerissen werden müssten. Eine | |
| Sanierung scheint nicht mehr möglich, bald werden die Wohnungen wohl für | |
| unbewohnbar erklärt werden. Aber die Menschen leben noch immer dort. | |
| Anna Kowalska: „Einer meiner Söhne ist letzten Monat gestorben.“ | |
| Daniel Kowalski: „Er hatte so eine Entzündung im Ohr.“ | |
| Anna Kowalska: „Einmal wurde er zu Hause ohnmächtig. Da habe ich den | |
| Krankenwagen gerufen. Aber die haben gesagt, wegen so etwas würden sie | |
| nicht kommen. Wir sollten uns ein Taxi rufen.“ | |
| Daniel Kowalski: „Im Krankenhaus musste wir fünf Stunden warten, bis er an | |
| der Reihe war. Die haben ihm nur ein paar Schmerztabletten gegeben. Die | |
| Krankenschwester hat gesagt, wir sollten uns nicht so anstellen, das sei | |
| nur eine Erkältung. Dabei hat man gesehen, dass er völlig weggetreten war. | |
| Er hat gezittert. Die Ärzte wussten überhaupt nicht, was sie tun sollten. | |
| Dann war er hirntot. Die Ärzte haben ihn ins künstliche Koma versetzt und | |
| nach Bremen in die Klinik gebracht. Das war am 17. Juni. Am 25. war er | |
| tot.“ | |
| Anna Kowalska: „Der Chefarzt hat gesagt, ihm hätten vier Stunden gefehlt.“ | |
| Daniel Kowalski: Eine Woche, und dann war er einfach weg. Ich bin seitdem | |
| völlig durch. Ich glaube, ich werde langsam zum Psycho. Wirklich. Ich habe | |
| einen Brief an die Stadt geschrieben und gefragt, ob sie die Beerdigung | |
| bezahlen können. Aber wir haben noch keine Antwort. | |
| Aus einem Fenster ertönt eine polnische Männerstimme. Daniel Kowalski sagt, | |
| er müsse jetzt gehen. Morgen müsse er sich wieder um seine Geschwister | |
| kümmern, anstatt in die Schule zu gehen. Er ist jetzt der Älteste von | |
| ihnen. | |
| 18 Aug 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Paul Toetzke | |
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