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# taz.de -- Dorf bei Jerusalem kämpft um Ruinen: Unerwartete Allianz
> Jerusalems Stadtverwaltung will das Dorf Lifta komplett umbauen. Gegen
> die Pläne wehren sich Palästinenser und Israelis gemeinsam.
Bild: Gemeinsam in die Geschichte tauchen: In Lifta, einem Dorf bei Jerusalem, …
Dorthin bin ich an der Hand meiner Mutter geflohen.“ Yacoub Odeh lehnt am
Eingang zur alten Moschee Liftas, einem ehemaligen arabischen Dorf am Fuße
Jerusalems, und weist in die Ferne über sanfte, grüne Hügel Richtung
Westjordanland. „Ein Truck hielt ein paar hundert Meter entfernt von hier
und fuhr uns raus. Mein Vater lief zurück ins Dorf, um weiterzukämpfen.“
Odeh war sieben Jahre alt, als der Krieg 1948 begann und ihn dazu zwang,
sein Heimatdorf und eine idyllische Kindheit zurückzulassen. Die Spiele mit
den Nachbarskindern, die lauen Sommerabende auf dem Marktplatz, das Bad in
dem aus Steinen herausgeschlagenen Wasserbecken im Zentrum des Dorfs – all
dies war von einem auf den anderen Tag verloren. „Das war die ‚Nakba‘, die
Katastrophe“, sagt Odeh und bezieht sich damit auf die Massenflucht der
Palästinenser_innen im Krieg 1948, den die Israelis als
Unabhängigkeitskrieg bezeichnen: „Es war die Zerstörung unseres Lebens.“ …
rückt seinen weißen Schlapphut zurecht, der seine Glatze vor der Sonne
schützt und in grünen Lettern die Aufschrift trägt „Save Lifta.“
Heute ist das Dorf am Fuße Jerusalems in erster Linie Ausflugsziel.
Liebespaare turteln zwischen romantischen Steinruinen, religiöse Juden
nutzen die Wasserquelle auf dem Marktplatz, die bereits in der Bibel als
die „Quelle von Neftoah“ erwähnt wird, für ihr rituelles Bad. Die
Schotterwege sind gesäumt von gelb blühendem Senf und Kaktusfeigen.
So idyllisch das Ruinendorf ist, so sehr ist es auch ein Prisma der
Geschichte und der Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästina. In
den Häusern, die die arabische Bevölkerung 1948 hinter sich ließen, fanden
wenige Jahre später arabische Juden Zuflucht, die im Jemen und dem
irakischen Kurdengebiet verfolgt worden waren.
## Gemeinsam die Erinnerung an den Krieg bewahren
Das alles könnte die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Gruppen
unmöglich machen. Doch der sogenannte Plan zur Entwicklung Liftas der
Jerusalemer Stadtverwaltung sorgt nun für eine unerwartete Allianz. Der
Plan sieht vor, 268 Luxuswohnungen, Hotelgewerbe und Einkaufszentren
einzurichten und neue Zugangsstraßen zu bauen. Dagegen wehren sich die
„Liftawis“, die ehemaligen palästinensischen Bewohner_innen, genauso wie
die jüdisch-israelischen Bewohner_innen des Dorfes, die bis Juni noch in
dem Dorf gelebt haben.
Gemeinsam mit verschiedenen Aktivist_innen kämpfen sie in der Koalition
„Save Lifta“ gegen die Umsetzung des Plans. Dabei sorgen sich
Naturschützer_innen um den Verlust der grünen Oase am Stadteingang zu
Jerusalem und die Zerstörung eines Lebensraums von Pflanzen und Tieren, der
international einzigartig ist.
Architekt_innen und Archäolog_innen geht es um die Erhaltung der antiken
Schätze, der Dorfstruktur und der Gebäude von historischem Wert. Allen
gemeinsam geht es aber auch darum: die Erinnerungen an den Krieg und an die
sich anschließenden Auseinandersetzungen zwischen Palästinenser_innen und
Israelis zu bewahren. Der Bebauungsplan wurde bereits 2006 entwickelt, nun
aber wird die Bedrohung immer konkreter: Die letzten Bewohner_innen des
Dorfes, Juden aus dem Jemen und dem kurdischem Irak, mussten im Juni ihre
Häuser verlassen – unter ihnen auch Yoni Yochanan. Ihre Häuser sind bereits
zerstört.
Vor wenigen Wochen noch konnte Yochanan von seinem Haus das Dorf
überblicken, das sich an den Hängen entlang ins Tal zieht. Auch Yochanans
Eltern waren in den 1950er Jahren aus dem irakischen Kurdengebiet nach
Israel eingewandert. Nach einigen Monaten in einem Flüchtlingscamp wurde
der Familie von der Regierung das Haus in Lifta zugewiesen. Yochanan ist
dort geboren.
## Vorerst Weltkulturerbe
„Wenn wir schon nicht hier leben können, soll zumindest das Dorf erhalten
bleiben“, sagt Yochanan. „Wir kämpfen für eine vernünftige Renovierung d…
Häuser, für ein Museum für all die Menschen, die hier gelebt haben, Araber
und Juden. Für einen offenen Ort der Bildung.“
Es ist kein leichter Kampf für Save Lifta. Die Koalition hat zwar erreicht,
dass Lifta auf die vorläufige Liste des Unesco-Weltkulturerbes gesetzt
wurde. Für eine endgültige Aufnahme muss aber die israelische Regierung
zustimmen – angesichts der verschiedenen Auseinandersetzungen, die Israel
gerade mit der Unesco führt, ist das unwahrscheinlich. Gerade erst hat die
Unesco den Tempelberg ausschließlich mit dem arabischen Namen bezeichnet
und damit in Israel für einen Sturm der Entrüstung gesorgt. Ökonomisch
betrachtet erwarten sich viele – wohl auch die Jerusalemer Stadtverwaltung
– einen Gewinn von einer Versteigerung der Häuser. Hinzu kommt auch: Jeder
Versuch, Lifta zu retten, bedeutet für die israelische Gesellschaft auch
eine Auseinandersetzung mit der palästinensischen Geschichte dieses Dorfs.
Als Yacoub Odeh, zwanzig Jahre nachdem er geflohen war, Lifta zum ersten
Mal wieder betrat, war er 27 Jahre alt. 1967, einige Wochen nach dem
Sechstagekrieg, in dem Israel das Westjordanland erobert hatte, kletterte
er mit seiner Familie und anderen Liftawis den Schotterweg hinunter in
seine ehemalige Heimat. Seine Mutter weinte. „Gerade für die älteren
Menschen war es schwer. Alles hatte sich komplett verändert“, erzählt Odeh
heute: „Es war unser Dorf, und es war es doch nicht.“
In zahlreichen Häusern lebten neue Bewohner_innen, Juden aus dem Irak und
dem Jemen. Das Haus seiner Großmutter stand leer. Sie begann zu putzen und
ihre Rückkehr vorzubereiten. Doch die Grenzpolizei gab ihnen zu verstehen,
dass ihnen der Eintritt komplett untersagt wird, wenn sie weitermachen und
versuchen, ins Dorf zurückzukehren. Odeh vermutet, dass neue
Dorfbewohner_innen die Polizei gerufen hatten. Seitdem aber besucht Odeh
Lifta regelmäßig, in den letzten Jahren vor allem als Tourguide, um auf den
Kampf von Save Lifta aufmerksam zu machen.
## Beide Seiten haben die gleichen Verfolgungserfahrungen
Eine Chance zur Bewahrung des Dorfes liegt in den Ergebnissen einer
Untersuchung der Israelischen Antikenbehörde, die die Aktivist_innen der
Koalition gerichtlich erkämpft haben. Die Archäolog_innen der
Antikenbehörde fanden Schätze von historischem Wert, unter anderem sechs
antike Olivenpressen, eine gut erhaltene römische Straße, Häuser aus dem
12. Jahrhundert sowie Fundstücke aus Ton von vor 3.000 Jahren. Mit diesen
Funden könnte die Bebauung und Umsetzung des Plans unter Umständen
verhindert werden.
„Wir werden dafür kämpfen, dass die Ergebnisse berücksichtigt werden. Auch
gerichtlich“, sagt Daphna Golan. Die Soziologieprofessorin an der
Hebräischen Universität Jerusalems ist ebenfalls Mitgründerin der
Koalition. Sie steht am Rande des alten Marktplatzes. Fragt man Golan, ob
die israelische Gesellschaft zu einer Auseinandersetzung mit dem
palästinensischen Narrativ der Geschichte des Staates Israel bereit ist,
zuckt sie die Schultern und lächelt: „Nun, da die Gleichberechtigung von
Juden aus arabischen Ländern ein großes Thema ist, auch in
Regierungskreisen – vielleicht ist dies der Zeitpunkt, auch über die
Gleichberechtigung von Palästinenser_innen zu sprechen.“ Dann verweist sie
auf Yoni Yochanan: „Er versteht sich selber nicht als links, aber er weiß
besser als viele andere um die Geschichte der Palästinenser_innen. Das kann
uns ermutigen.“
In den Wochen, in denen Odeh das Dorf zum ersten Mal wieder sah, war auch
Yochanan im Dorf. Er war sieben Jahre alt, als eine palästinensische
Familie vor dem Haus stand, um ihr ehemaliges Haus zu besuchen – die
Familie Ramala Abu Na’aman. Anstatt die Polizei zu rufen, lud die Familie
Yochanan die ehemaligen Bewohner_innen zum Kaffee ein.
Gemeinsam blickten sie auf das Zentrum des Dorfes hinunter, aus dem die
eine Familie vertrieben worden war und in dem die andere Zuflucht gefunden
hatte. „Sie hatten die gleichen Verfolgungs- und Vertreibungserfahrungen“,
erzählt Yochanan rückblickend. „Sie sprachen die gleiche Sprache, Arabisch,
sie waren in der gleichen Kultur zu Hause.“ Sie wurden Freunde, besuchten
sich von da an regelmäßig zu Hochzeiten und Familienfesten in Ramallah und
Lifta.
## Lifta kann zum Modell für den Frieden werden
Die Kooperation in der Koalition Save Lifta läuft trotzdem nicht immer
reibungslos. Die Fragen nach dem Recht auf Rückkehr der Palästinenser_innen
oder Kompensation bergen Konfliktpotential. Am Ende jedoch könnte die
Diversität der Koalition ihre entscheidende Stärke sein. „Wir haben so
viele unterschiedliche Unterstützer_innen, auch Politiker_innen aus
unterschiedlichen Lagern“, sagt Golan. Bleibt zu hoffen, dass dies ihr
entscheidender Joker bei der Sitzung am kommenden Mittwoch sein wird. Dann
nämlich stimmt der Kommunalausschuss endgültig über den Plan ab.
„Wir brauchen Hilfe. Ich weiß nicht, wie wir den Menschen noch klar machen
können, was für ein wichtiger Ort Lifta ist“, sagt Golan. Durch ihre
ansonsten ruhige Stimme klingt die Besorgnis durch.
„Juden und Araber“, sagt Odeh, „haben vor dem Krieg in Frieden miteinander
gelebt. Ohne Besatzung und in einer gemeinsamen Demokratie können wir auch
heute zusammenleben.“ Am Mittwoch wird sich entscheiden, ob Lifta dazu
beitragen kann.
10 Aug 2017
## AUTOREN
Judith Poppe
## TAGS
Israel
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Palästina
Frieden und Krieg
Vertreibung
Juden
Irak
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