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# taz.de -- Jahrestag des Putschversuchs: Erdoğan sieht noch viele Verräter
> Ein Jahr nach dem gescheiterten Putsch gedenkt der türkische Präsident
> der „Märtyrer“. Seinen Feinden droht er mit dem Tod.
Bild: Ein Erdoğan-Fan zeigt eine Puppe mit dem Kopf des Predigers Gülen und e…
Istanbul taz | Aus der Luft, eingefangen von etlichen Fernsehkameras, sah
es aus, als würde sich ein nicht enden wollender Lavastrom in Richtung der
großen Hängebrücke über den Bosporus ergießen. Diese wurde früher einfach
Bosporus-Brücke genannt, jetzt heißt sie „Brücke der Märtyrer des 15.
Juli“. Die schier unübersehbare Menschenmenge, die am frühen Samstagabend
über die Autobahn und die Zubringerstraßen der Brücke zustrebte, war auf
dem Weg zur großen Feier des Siegs über die Putschisten vom 15. Juli 2016.
Hier, an der Bosporus-Brücke, soll der Putschversuch, den Teile des
Militärs damals in den frühen Abendstunden begonnen hatten, am Widerstand
der Bevölkerung gescheitert sein. Wieder und wieder beschwor Präsident
Recep Tayyip Erdoğan dies in seiner Ansprache zwei Stunden vor Mitternacht.
Hier, sagte er, hätten sich die Menschen im T-Shirt den Panzern
entgegengestellt, hätten mit bloßen Händen schwer bewaffneten Soldaten
getrotzt und so letztlich den Putsch verhindert.
36 jener 250 Menschen, die offiziell als „Märtyrer des Putsches“ beklagt
werden, sind auf der Bosporus-Brücke gestorben. Wie viele Soldaten getötet
wurden, wird offiziell nicht gezählt, sie sollen mit den Märtyrern nicht
vermischt werden.
Seine Zuhörer hängen an den Lippen des Präsidenten, oft mit Tränen in den
Augen. Es sind viele gläubige Leute darunter, die Frauen tragen Kopftuch
oder Tschador, die Männer Bart und Käppis. Nur die Kinder, die aufgeregt
herumhüpfen, unterscheiden sich nicht von den Kindern der säkularen Türken.
Viele tragen weiße Käppis mit dem Aufdruck „15. Juli“, viele Frauen haben
sich die Käppis über ihre Kopftücher gestülpt. Was am Nachmittag, als die
Leute mit Bussen, Booten und U-Bahnen herbeigebracht werden, noch wie ein
Volksfest wirkt, verwandelt sich, als Erdoğan spricht, fast in ein
sakrales Ereignis.
## Unbedingt demütigen
Ein Lichtdom überhöht die Rednertribüne, die dort aufgebaut worden ist, wo
vor einem Jahr die Panzer standen. Im Hintergrund ist das Denkmal für die
„Märtyrer des 15. Juli“ angestrahlt, ein transparenter Kubus über einem
Brunnen. Als der Präsident sie dazu auffordert, halten die Leute ihre
leuchtenden Handys über ihre Köpfe. Bevor Erdoğan die Bühne betrat, war die
Menge mit einer Koranrezitation eingestimmt worden.
Doch Erdoğan will in dieser Nacht nicht nur einen Sieg feiern. Er sieht
sich nach wie vor von Feinden umgeben. Die Verräter seien noch nicht
besiegt: „Wir werden ihnen die Köpfe abreißen“, verspricht er vor allem
denjenigen, die die Putschisten losgeschickt hätten. Keine Gnade soll ihnen
zuteil werden.
„Wenn das Parlament die Todesstrafe wiedereinführt, werde ich das Gesetz
sofort unterschreiben“, sagte er zum wiederholten Mal. Die Verräter
müssten gedemütigt werden – so wie einst die Gefangenen im
US-amerikanischen Gefängnis von Guantánamo. Wie dort sollten sie „in
Einheitskleidung den Richtern vorgeführt“ werden.
Das sind keine leeren Worte. Erst am Freitag waren per Erdoğan-Dekret
erneut 7.000 Angestellte aus dem öffentlichen Dienst als angebliche
Anhänger der islamischen Gülen-Sekte gefeuert worden. Diese Bewegung wird
nach einhelliger Auffassung für den Putschversuch verantwortlich gemacht.
Der Ausnahmezustand, der eigentlich an diesem Mittwoch enden sollte, ist
erneut verlängert worden. Bereits am Dienstag letzter Woche hatte Erdoğan
den ersten „Märtyrerfriedhof“ besucht und in den folgenden Tagen im ganzen
Land Denkmäler eingeweiht. Auch am Samstagabend finden nicht nur auf der
Bosporus-Brücke, sondern zeitgleich im ganzen Land Gedenkveranstaltungen
statt, bei denen Erdoğans Rede auf Leinwände übertragen wird.
## Im Parlament sprach die Opposition
Wenige Stunden zuvor hatte in Ankara die offizielle Gedenkveranstaltung im
Parlament stattgefunden, das in der Putschnacht bombardiert worden war.
Das war der einzige Termin im Gedenkkalender, bei dem Erdoğan schwieg und
die Opposition reden durfte. Mit steinerner Miene hörte er zu, wie
Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu ihm in einer mutigen Rede vorhielt,
er, Erdoğan, habe den Putsch genutzt, um die Demokratie, die Gerechtigkeit
und die Meinungsfreiheit im Land abzuschaffen. Erdoğan tue alles dafür,
eine echte Aufklärung der Hintergründe des Putsches zu verhindern.
Nach diesem Auftritt wird Kılıçdaroğlu von der Rednerliste für den
feierlichen Akt gestrichen, der Sonntag früh um 2.30 Uhr im Lichthof des
Parlaments als Höhepunkt der Gedenkwoche stattfindet. Wie zuvor auf der
Bosporus-Brücke in Istanbul wird in den Morgenstunden niemand mehr Erdoğans
Helden-und-Verräter-Opus widersprechen.
Schon auf der Bosporus-Brücke war kein Hauch des Zweifels an der
offiziellen Version der Ereignisse mehr zu spüren. Es war eine
Massenversammlung von Gläubigen in doppelter Hinsicht: Da standen
überzeugte Anhänger des Präsidenten, die – anders als Hunderttausende von
Demonstranten eine Woche zuvor – nicht nach Gerechtigkeit riefen, sondern
stattdessen immer wieder den Ruf „Allahu Akbar“, Gott ist groß,
anstimmten.
Die Zweiteilung der Türkei zeigte sich erneut in dramatischer Weise. Von
den Millionen Teilnehmern, die eine Woche zuvor zu Kılıçdaroğlus
Abschlusskundgebung für den „Marsch für Gerechtigkeit“ im Istanbuler Voro…
Maltepe gekommen waren, ist wohl kaum jemand unter den Millionen
Teilnehmern auf Erdoğans Gedenkveranstaltung auf der Bosporus-Brücke.
## Unter den Kritikern geht die Angst um
Und so, wie seine Anhänger Erdoğan zu hundert Prozent vertrauen wollen,
glaubt ihm die andere Hälfte der Gesellschaft kaum ein Wort.
Unter Erdoğans Kritikern geht die Angst um. Nach offiziellen Angaben sind
bislang 50.510 Menschen verhaftet worden. Ihnen wirft die Justiz vor,
direkt oder indirekt in den Putschversuch verwickelt zu sein. Gegen
insgesamt 169.013 Menschen laufen Ermittlungsverfahren, knapp 150.000
Menschen sind aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden: Über die Hälfte
davon sind Lehrer, Dozenten und Professoren. Rund 150 Journalisten,
darunter der Welt-Korrespondent Deniz Yücel, sitzen im Gefängnis; über
hundert Zeitungen, TV-Sender und Radios wurden geschlossen oder aus dem
Äther verbannt.
Für die Anhänger des Präsidenten sind das alles Verräter, die ihr Schicksal
verdient haben. Viele verlangen die Todesstrafe für die Putschisten,
besonders, als im Anschluss an Erdoğans Rede in einer hochemotionalen Weise
die Namen aller 250 Menschen verlesen werden, die in der Putschnacht
starben.
Zum Abschluss eröffnet Präsident Erdoğan die Gedenkstätte für die „Märt…
des 15. Juli“. Der Tag ist bereits zum Nationalfeiertag erklärt worden. Er
stellt nun so etwas wie den Gründungsmythos der neuen Türkei dar. Sonntag,
kurz nach Mitternacht, wird um 0.13 Uhr landesweit in 90.000 Moscheen zum
Totengedenken aufgerufen. Da ist Erdoğan bereits auf dem Weg nach Ankara,
um im Morgengrauen seine Ansprache im Foyer des Parlamentsgebäudes zu
halten und anschließend vor dem Präsidentenpalast in Ankara ein weiteres
Gedenkmonument zu enthüllen.
16 Jul 2017
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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