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# taz.de -- Jahrestag des Putschversuchs: Das Heldenepos duldet keine Fragen
> Der 15. Juli wird als Tag der Demokratie gefeiert. Kaum jemand fragt: Wie
> konnte sich die türkische Demokratie innerhalb eines Jahres so weit
> zurück entwickeln?
Bild: Für den 15. Juli vom Staatspräsidentenamt bereit gestelltes Postermotiv.
Aus Angst, es könnte kaputt gehen, sagt sie, würde sie es nicht mehr
benutzen. Es liege nur so da, irgendwo in ihrer Wohnung. Die Rede ist von
Hande Fırat, CNN-Türk Moderatorin in Ankara, besser gesagt von ihrem
Smartphone, mit dem sie am 15. Juli 2016, in der Nacht des Putschversuchs,
per Facetime mit Präsident Erdoğan sprach.
Weil Erdoğan in diesem Gespräch, das live im Fernsehen übertragen wurde,
mit den Worten “sollen sie ruhig mit ihren Panzern und Gewehren kommen und
dem Volk gegenüberstehen“ seine Bürger auf die Straßen rief, ist das
Smartphone nunmehr als “Telefon, das den Putsch beendete“ bekannt. Mehrere
hunderttausend Dollar sollen ihr Geschäftsmänner aus Saudi Arabien und
Katar dafür geboten haben, doch Fırat will ihr historisches Objekt nicht
hergeben.
## Corporate Identity der Putschnacht
Schon Wochen vor dem ersten Jahrestag des gescheiterten Putschversuchs sind
alle Großstädte mit Postern für Gedenkveranstaltungen beklebt. Unter der
Schirmherrschaft des Staatspräsidentenamtes wird auf einer [1][Website]
nicht nur das sechstägige Veranstaltungsprogramm bekannt gegeben. Hier
finden sich von Songlisten und druckfähigen Fahnenentwürfen bis hin zu
Handyhüllendesigns und einer Coporate Identity Broschüre, alles Notwendige
für jene, die ihre eigene 15. Juli-Gedenkveranstaltung organisieren
möchten.
Die Poster, die alle Straßen und Nahverkehrshaltestellen schmücken, zeigen
verschiedene Illustrationen der Putschnacht, in der das Volk den Soldaten
und Panzern gegenüberstand und 249 Menschen ihr Leben verloren.
Auf Fotografien wurde gänzlich verzichtet. Stattdessen erinnert der
dramatisch-romantische Stil der Illustrationen, über denen der Schriftzug
“Heldenepos des 15. Juli“ prangt, tatsächlich an jene Jahrhunderte, in die
der “Heldenepos“ gehört. Die Neigung zu Pastelltönen wiederum ruft
Assoziationen zu Bildern aus Zeiten der Staatsgründung hervor.
Allerdings sorgten die Illustrationen auch für Diskussionen. Zum einen
wurde kritisiert, die Darstellung der weinenden, verzweifelten, leidenden
Soldaten würden das türkische Militär demütigen. Ein weiterer Kritikpunkt
war die offensichtliche Eins-zu-eins-Kopie des weinenden Soldaten, den der
Pulitzer Preisträger David Turnley im Golfkrieg fotografiert hatte.
Höchstwahrscheinlich hat jemand in einer anderen Sprache als türkisch den
Suchbegriff “weinender Soldat“ bei Google eingegeben und das Bild von der
ersten Trefferseite gewählt. Bei einer Suche auf türkisch erscheinen Fotos
von gerührten Soldaten, die bei Beerdigungen von Kameraden oder bei
Zeremonien an Atatürks Mausoleum weinen. Und dieses Weinen ist ein anderes
Weinen.
## Tausende Unbeteiligte ihrer Freiheit beraubt
Das auf den Putschversuch folgende Jahr war von dem mehrfach verlängerten
Ausnahmezustand bestimmt, der bis heute gilt. Die Putschermittlungen
verwandelten sich in ein Fass ohne Boden, in der Tausende von unbeteiligten
Menschen landeten. Sie verloren ihre Jobs und wurden um ihre Reisefreiheit,
ihre soziale Sicherheit, ihre Bürger- und Persönlichkeitsrechte gebracht.
Nicht einmal der ungezügelte Baussektor des Landes kommt mit der Errichtung
neuer Gefängnisse hinterher, weil die Zahl der Verhaftungen so rasant
gestiegen ist.
Akademiker*innen, Politiker*innen, Lehrer*innen, Anwält*innen,
Journalist*innen, Schriftsteller*innen, Künstler*innen,
Menschenrechtsaktivist*innen, Beamte – hunderttausende von Menschen sind
betroffen, aber unser Kenntnisstand über die wahren Verantwortlichen des
Putschversuchs reicht über die Darstellung dieser Poster nicht hinaus. In
einem Land, in dem es immer noch Tabu ist die Wehrpflicht in Frage zu
stellen, müssen wir auf weinerliche Soldaten blicken.
## Ein neuer Befreiungskrieg
In diesem einen Jahr hat es die AKP, die zuletzt an der Erschöpfung der
langen Regierungszeit litt, nicht nur geschafft, zu neuem Leben zu
erwachen, sie hat einen Heldenepos erschaffen, den sie nötig hatte. Der
Kampf gegen den inneren Feind und das Selbstbewusstsein, das mit dieser
Mythologie einhergeht, hat auch die Rolle der “Neuen Türkei“ in der Welt
gestärkt: Das Türkentum, das sich mit dem Islam neu erfunden hat, ist die
Revanche des zusammengebrochenen Osmanischen Reichs. Es ist ein neuer
Befreiungskrieg.
Was alles ist in diesem einen Jahr passiert? In jedem Fall viel über den
15. Juli gesprochen. Für die Märtyrer und Veteranen jener Nacht wurden
Panzer aus Massivgold gegossen und panzerförmige Kuchen gebacken. Aufgrund
der Assoziation mit Erdoğans Imtimfeind Fettullah Gülen wurden alle
Fahrzeugnummernschilder mit der Buchstabenkombination FG aussortiert. Ja,
wir sind an einem Punkt angelangt, an dem in Mathematikschulbüchern aus den
Innenwinkeln von Dreiecken die Buchstaben F und G gesäubert werden.
## Omnipräsenter Märtyrerkult
In allen Schulen wurden Informationstafeln zu den Ereignissen des 15. Juli
installiert, die unter anderem blutige Szenen enthalten und keinerlei
pädagogischer Kontrolle unterliegen. Kinder führten Theaterstücke auf, in
denen sie “Märtyrer“ verkörperten. Der 15. Juli wurde zur “Großen
Revolution des Türkischen Volkes“ ernannt. Zahllose Foto- und
Gedichtwettbewerbe fanden statt, Schüler*innen wurde ermuntert, Briefe an
die Märtyrer zu verfassen.
Brücken, Straßen, sogar der Busbahnhof wurde umbenannt. Er heißt jetzt:
“15. Juli Demokratie Busbahnhof“. Bücher wurden geschrieben, Filme wurden
gedreht. Es wurde Historie erzeugt, ein frischer Heldenepos erdichtet.
Und es stimmt: Sich als Zivilist vor einen kampfbereiten Panzer zu stellen
erfordert den epischen Mut eines Helden. Aber in Heldenepen werden keine
Fragen stellt. Fragen wie: War der einzige Weg, den Putsch zu verhindern,
noch mehr Tote in Kauf zu nehmen und Zivilisten auf die Straße zu schicken?
Noch diese Woche kam in den Nachrichten die Meldung, dass jemand ein
Gülen-Buch im Müll fand, die Polizei verständigte, und der junge Mann,
dessen Fingerabdrücke sich auf dem Buch befanden, festgenommen wurde. Wieso
wissen wir, trotz der Sorgfalt der Ermittlungen und der Bedeutung, die dem
15. Juli beigemessen wird, immer noch nicht was genau sich in dieser Nacht
ereignet hat?
Beamt*innen, die Konten in einer Gülen-nahen Bank hatten, sind entlassen
worden. Aber die politischen Unterstüzer*innen des Putschversuchs werden
als AKP-internes Thema behandelt und nach außen mit dem Satz “Wir wurden
reingelegt“ abgehakt. Weshalb?
## Fragen stellen und dagegen halten
Logisch, rechtlich und moralisch gesehen müssten all jene zur Rechenschaft
gezogen werden, die geschwiegen und kooperiert haben, als sich die
Gülen-Bewegung in alle öffentlichen Institutionen des Landes einschlich.
Wenn es tatsächlich Menschen gegeben hat, die den Aufstieg dieser
Organisation nicht gesehen haben, sollten diese wenigstens herausfinden,
weshalb sie “reingelegt“ wurden, und sich selbst in Zweifel stellen.
Man sollte dagegen halten, wenn alle, zu Putschisten erklärt werden. Man
sollte fragen, wie sich ein Jahr nach dem demokratiefeindlichen
Putschversuch die türkische Demokratie sich so weit zurück entwickeln
konnte. Das zumindest würde, im Gegensatz zu einem Heldenepos, im wahren
Leben geschehen.
14 Jul 2017
## LINKS
[1] http://www.15temmuzetkinlikleri.com/
## AUTOREN
Pınar Öğünç
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