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# taz.de -- Festgenommene Menschenrechtler: Türkei ordnet U-Haft an
> Zehn Menschenrechtler kamen in der Türkei zu einem Workshop zusammen. Nun
> sind sechs davon wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft.
Bild: „Das ist ein Angriff auf die gesamte Menschenrechtsbewegung in der Tür…
Istanbul dpa | Die Prinzeninseln im Marmarameer vor der Küste Istanbuls
sind ein angenehmer Rückzugsort von der Millionenmetropole. Dort sind keine
Autos erlaubt, es lässt sich in Ruhe arbeiten. In einem Hotel auf Büyükada,
der größten der Inseln, kamen kürzlich zehn Menschenrechtler zu einem
Treffen zusammen, das Amnesty International als Routine-Workshop
beschreibt. Doch am 5. Juli [1][stürmte die türkische Polizei die
Versammlung]. In der Nacht zu Dienstag verhängte ein Richter in Istanbul
nun Untersuchungshaft gegen sechs der zehn Menschenrechtler. Neben
Amnesty-Landesdirektorin Idil Eser sind unter den Inhaftierten auch ein
Deutscher und ein Schwede.
Seit dem Putschversuch in der Türkei [2][vor einem Jahr] wurden mehr als
50.000 Menschen in Untersuchungshaft gesperrt, die bis zu fünf Jahre dauern
kann. Mehr als 150 Journalisten sitzen derzeit im Gefängnis, darunter der
deutsch-türkische Welt-Korrespondent Deniz Yücel. Auch die deutsche
Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu Corlu ist in U-Haft. Dass nun
gleich sechs Menschenrechtler – darunter wieder ein Deutscher – bis zu
einem Prozess hinter Gitter sollen, markiert eine neue Stufe im Vorgehen
gegen angebliche Staatsfeinde.
„Das ist ein Angriff auf die gesamte Menschenrechtsbewegung in der Türkei“,
sagt der Türkei-Experte von Amnesty International, Andrew Gardner, der
Deutschen Presse-Agentur. „Das ist eine existenzielle Bedrohung der
Menschenrechtsbewegung und von Amnesty International in der Türkei.“ Erst
im Juni war der Amnesty-Landesvorsitzende Taner Kilic in Untersuchungshaft
genommen worden. Ihm werden Verbindungen zur Bewegung des Predigers
Fethullah Gülen vorgeworfen, den Präsident Recep Tayyip Erdogan für den
Putschversuch verantwortlich macht.
Amnesty sprach im Zusammenhang mit der Inhaftierung von Kilic von einer
„Justiz-Farce“, und ebenso verheerend fiel die Kritik an den Festnahmen der
zehn Menschenrechtler vor knapp zwei Wochen aus. Vier von ihnen setzte der
Haftrichter nun bis zu einem Prozess unter Auflagen auf freien Fuß. Sie
dürfen das Land nicht verlassen und müssen sich dreimal die Woche bei den
Behörden melden. Die anderen sechs müssen in Haft. Die Staatsanwaltschaft
wirft allen zehn Beschuldigten nach Amnesty-Angaben vor, eine
Terrororganisation unterstützt zu haben – um welche es sich handeln soll,
blieb unklar.
## Die Familie ist fassungslos
Schon unmittelbar nach den Festnahmen nannte der Generalsekretär von
Amnesty International, Salil Shetty, Terrorvorwürfe gegen die zehn
Menschenrechtler „unfassbar“. Shetty warf Erdogan vor, Kritik zum
Verstummen bringen zu wollen. „In Erdogans Türkei soll es keine
Zivilgesellschaft, keine Kritik und keine Rechenschaftspflicht geben.“
Erdogan rückte die Menschenrechtler dagegen in die Nähe der Putschisten vom
15. Juli 2016. Nach den Festnahmen sagte er beim G20-Gipfel in Hamburg, die
Versammlung auf Büyükada habe in ihrem Charakter „einer Fortsetzung des 15.
Juli“ entsprochen. Das ist ein gefährlicher Vorwurf: Bei den
Feierlichkeiten ein Jahr nach der Niederschlagung des Putsches kündigte
Erdogan am Wochenende an, Putschisten und anderen Verrätern werde man „die
Köpfe abreißen“.
Die regierungsnahe Zeitung Star will mit Hilfe des AKP-Abgeordneten Orhan
Deligöz sogar eine Verschwörung [3][aufgedeckt haben], die einem
Spionagethriller alle Ehre machen würde: In dem Hotel auf Büyükada hätten
seit dem Putschversuch vier Versammlungen stattgefunden, sagt Deligöz nach
Angaben des Blattes – darunter auch jenes Treffen der „sogenannten
Menschenrechtsaktivisten“. Geleitet hätten die Versammlungen Agenten des
US-Geheimdienstes CIA und des britischen Pendants MI6. Das Ziel: Ein
Aufstand nach Art der Gezi-Proteste 2013.
Die Familie des inhaftierten Deutschen machen solche Vorwürfe fassungslos.
Bei ihm handelt es sich um den Menschenrechtstrainer Peter Steudtner, der
gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Magdalena Freudenschuss und zwei
kleinen Kindern in Berlin lebt. „Peter hat sich stets für eine friedliche,
gewaltfreie Lösung von Konflikten eingesetzt. Die Unterstellung, er könnte
einen Putsch geplant haben, ist völlig absurd“, sagte Freudenschuss dem
Spiegel. „Es macht uns Angst und es macht uns wütend, nicht zu wissen, wann
Peter und die anderen Menschenrechtler entlassen werden.“
## Amnesty und Erdogan
Auch bei Amnesty klingt es nicht, als hätten die Workshop-Teilnehmer einen
Aufstand geplant. Demnach ging es bei dem Treffen um Menschenrechtsarbeit
unter schwierigen Bedingungen – wie schwierig diese Bedingungen in der
Türkei sind, wurde den Teilnehmern bei der Polizeirazzia vor Augen geführt.
Auf dem Programm standen Themen wie Kommunikations- und Datensicherheit,
aber auch Stressbewältigung und Yoga. Den Haftrichter beeindruckte das
nicht. Die Türkei hat nun ein zweifelhaftes Alleinstellungsmerkmal: Es ist
das erste Mal in der Geschichte von Amnesty, dass der Vorsitzende und die
Direktorin der Organisation in einem Land gleichzeitig hinter Gittern sind.
Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Als Erdogan 1999 – damals als
Bürgermeister von Istanbul – wegen des Rezitierens eines Gedichts zu einer
Gefängnisstrafe verurteilt wurde, setzte sich Amnesty International [4][für
seine Freiheit ein]. Erdogan wischte diesen Hinweis kürzlich bei einer
Pressekonferenz unwirsch beiseite – und verwies darauf, dass er damals ja
trotz des Amnesty-Engagements inhaftiert wurde: „Das Resultat war, dass ich
ins Gefängnis gekommen bin.“
18 Jul 2017
## LINKS
[1] /!5423400
[2] /!5426971
[3] http://dpaq.de/Q4Qpl
[4] http://dpaq.de/mYqDj
## AUTOREN
Can Merey
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