# taz.de -- „Patience“ von Comiczeichner Clowes: Psycho-Trip in die Vergang… | |
> Kult-Indie-Comiczeichner Daniel Clowes erzählt in „Patience“ eine | |
> vielschichtige, düstere Paargeschichte – inklusive Zeitreise. | |
Bild: Selbstzerfleischungen und brutal-ehrliche Dialoge: Szene aus „Patience�… | |
Sie sind die Harmonie pur. Patience und Jack. Ein junges Paar, das sich | |
gefunden hat. Der Schwangerschaftstest ist positiv. Uneingeschränkte | |
Vorfreude. Alles perfekt. Oder doch nicht? | |
Stets schwingen Zweifel mit in den Dialogen. Vor allem finanzielle Sorgen | |
beschäftigen das Paar, es lebt in prekären Verhältnissen. Jack behauptet, | |
einen Job in Aussicht zu haben, der die gröbsten Probleme lösen würde. Doch | |
er lügt, eigentlich hat er nur einen Job als Flyer-Verteiler auf der Straße | |
sicher. | |
Jack, der Erzähler der Graphic Novel „Patience“, lügt nicht in böser | |
Absicht, er will seine schwangere Freundin nur beruhigen, ihr das | |
Bestmögliche bieten, auch wenn es nicht in seiner Macht liegt. Auch | |
Patience hat ein schlechtes Selbstwertgefühl, eine obskure Vergangenheit | |
bedrückt sie und macht sie glauben, ihren Ehemann gar nicht verdient zu | |
haben. | |
Typisch für den 1961 geborenen amerikanischen Independent-Comiczeichner | |
Daniel Clowes sind diese Selbstzerfleischungen, brutal-ehrliche Dialoge | |
und noch ehrlichere Gedankenstimmen, die die Abgründe hinter der | |
bürgerlichen Fassade seiner meist in Kleinstädten lebenden Protagonisten | |
bloßlegen. | |
## Zweimal Genrewechsel | |
Es sind sogenannte Loser und Außenseiterfiguren, denen er sich widmet: so | |
in seinem Kultcomic „Ghost World“ aus den 1990ern, dem vielschichtigen | |
Porträt zweier Teenager (durch die 2001er Verfilmung mit u. a. Thora Birch, | |
Scarlett Johansson und Steve Buscemi noch bekannter geworden) und ihrer | |
Beziehung zu einem mittelalten Vinyl-Liebhaber; [1][oder in „Wilson“], | |
beißend bösen ganzseitigen Strips um einen Misanthropen, der die | |
zahlreichen Verlogenheiten in seiner Umgebung aufdeckt, nur die eigenen | |
selten erkennt. Als Wilson erfährt, dass er eine fast erwachsene Tochter | |
hat, wird er plötzlich sentimental, scheint menschlich zu werden. [2][Die | |
Verfilmung von „Wilson“] startete gerade am 29. Juni in den deutschen | |
Kinos. | |
Bei „Patience“ nun bleibt sich Clowes in seinem nihilistischen Weltbild | |
treu, wobei man diesmal von Anfang an das Gefühl hat, in einen – | |
psychologisch sehr ausgefeilten – Film von suggestiver Kraft einzutauchen, | |
der einen von der ersten „Einstellung“, also vom ersten Panel, an packt. | |
Das zunächst so sensible wie fragile Beziehungsporträt verwandelt sich | |
schnell in einen düsteren Film noir: Von der Arbeit kommend, findet Jack | |
seine Frau tot in der gemeinsamen Wohnung auf – ermordet samt ungeborenem | |
Kind. | |
Diese Vorkommnisse spielen sich im Jahr 2012 ab. Jack wird von der | |
unfähigen Polizei als einziger Verdächtiger eingesperrt und verurteilt, | |
nach einem Jahr jedoch mangels Beweisen wieder entlassen. Ein halbseitiges | |
Panel signalisiert überraschend einen Zeitsprung: „2029“. Wieder ein | |
Genrewechsel, auf einmal sind wir in einem Science-Fiction-Film. Jack sitzt | |
grau meliert und innerlich gebrochen in einer futuristischen Bar. Er kann | |
das traumatische Erlebnis nicht vergessen, das sein Leben für immer | |
veränderte und nie aufgeklärt wurde. | |
Durch Zufall ergibt sich für Jack die Möglichkeit zu einer Zeitreise. Nach | |
dem Jump ins Jahr 2006 gelingt es ihm, Patience zu begegnen, bevor er sie | |
kennenlernte. Doch der Versuch, sie vor dem Verbrechen zu schützen, bringt | |
neue Probleme mit sich, und er erfährt mehr über Patience’ deprimierende | |
Erfahrungen mit Männern in ihrer Jugend. | |
Für Fans von „harter“ Science-Fiction ist die Graphic Novel eine | |
Enttäuschung: Daniel Clowes unternimmt kaum den Versuch, zu erklären, wie | |
eine Zeitreise technisch möglich gemacht wird. Unter anderem hat er sich | |
von der amerikanischen 1980er/90er-Jahre-Kultserie „Zurück in die | |
Vergangenheit“ („Quantum Leap“) inspirieren lassen. Die Zeitreise wird | |
durch einen obskuren Drogencocktail möglich gemacht, und manche Erlebnisse | |
Jacks erinnern in ihrer Wirkung an einen LSD-Trip. | |
## Wütender Zeitdetektiv | |
Der Zeitsprung ist nur Vehikel, um eine Geschichte zu erzählen, die eine | |
Versuchsanordnung enthält: Lässt sich die Zeit zurückdrehen? Ist es | |
möglich, eine Korrektur in den Zeitläufen und der eigenen Biografie | |
vorzunehmen? Dabei fischt Jack als verzweifelt wütender Zeitdetektiv | |
zunächst im Dunkeln. Nacheinander nimmt er verschiedene Verdächtige ins | |
Visier. Es bleibt nicht aus, dass die junge Patience den alten Jack | |
kennenlernt und weitere Komplikationen auftreten. | |
Clowes lässt seinen Protagonisten eine mentale wie emotionale | |
Achterbahnfahrt durchlaufen, in kürzeren Sequenzen wird auch Patience’ | |
Perspektive beleuchtet. Die Seitenaufteilung ist sehr durchdacht, die | |
klaren, realistischen Zeichnungen wirken stets sehr aufgeräumt, bis sie in | |
kurzen slapstickartigen Sequenzen in grelle Karikaturen von Action- oder | |
Gewaltszenen ausarten. | |
Clowes spielt dabei virtuos mit typischen Comic-Effekten wie Sound-Words | |
oder Splash-Panels, benutzt die Farbgebung, um die psychologische Dynamik | |
der Geschichte zu steigern und auf eine panische, delirierende Ebene zu | |
heben. Clowes’ tiefschwarzer, oft ins Absurde abdriftender Humor und sein | |
virtuoses Spiel mit den Genres machen die in der Substanz tieftraurige | |
Geschichte zu einem anregenden Leseerlebnis. | |
3 Jul 2017 | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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