| # taz.de -- Der Comicverlag Reprodukt: Lumpereien des Lebens | |
| > Sie kennen Mawil, Lewis Trondheim und die Hernandez-Brüder nicht? Dann | |
| > wird's Zeit. Sie alle sind beim innovativsten Comic-Verlag Deutschlands. | |
| Bild: Die Reprodukt-Künstler im Comic-Selbstportrait. | |
| Die Bundesrepublik Deutschland mag in Sachen Comic-Kultur immer noch ein | |
| Entwicklungsland sein, verglichen mit Belgien, Frankreich und den USA. Aber | |
| dass es mittlerweile so etwas wie eine Szene gibt - assoziiert mit den | |
| Kunsthochschulen in Berlin und Hamburg, die das Fach Bildgeschichte auf dem | |
| Lehrplan haben - und dass die langsam zu brummen beginnt, dafür haben nicht | |
| Branchenriesen wie Carlsen und Ehapa gesorgt, sondern Independents wie | |
| Edition 52 und der Berliner Verlag Reprodukt. "Da ist in den letzten Jahren | |
| sehr viel nachgewachsen", bestätigt Reprodukt-Verleger Dirk Rehm zufrieden. | |
| "Gerade die jüngeren Autoren, die mittlerweile auch schon Anfang, Mitte 30 | |
| sind, müssen sich grafisch nicht mehr so viel beweisen, das haben andere | |
| schon gemacht, Anke Feuchtenberger, Atak, CX Huth etc., und können sich | |
| daher stärker auf das Erzählerische konzentrieren. Die können jetzt viel | |
| besser und klarer vermitteln, was sie erzählen wollen." | |
| Die Liste der Comics, mit denen Reprodukt, das ist vor allem Dirk Rehm, | |
| seit ein paar Jahren unterstützt von Christian Maiwald und Jutta Harms, dem | |
| heimischen Comicmarkt qualitativ auf die Beine geholfen haben, ist lang: | |
| Sascha Hommer publiziert hier, der mit seinem großartigen an Manga | |
| erinnernden Comic "Insekt" begeisterte, Arne Bellstorf, dessen | |
| sentimentalisch-ehrliches, feinsinniges Pubertätsprotokoll "Acht, Neun, | |
| Zehn" 2006 zu Recht mit dem Icom Independent Preis gekürt wurde, der | |
| Berliner Bestsellerpunk Fil und dessen Ateliergenosse Mawil. Mittlerweile | |
| wird diese Arbeit durchaus von den Feuilletons gewürdigt. "2004/2005 hat | |
| das eingesetzt", sagt Rehm, "dass fast alles, was wir machen, besonders die | |
| deutschen Autoren, sehr wohlwollend wahrgenommen wird." | |
| Mawil etwa. Mit Funnies um seinen Serienhelden Supa Hasi konnte er erste | |
| Erfolge verbuchen, mit seinen realistischen Alltagsabenteuern aus der | |
| Hauptstadt hat er dann nicht nur Preise eingeheimst, sondern auch ein | |
| breiteres Publikum gefunden. Mawil ist die grafische Antwort auf die | |
| Geschichten der Berliner Lesebühnenautoren, und Jochen Schmidt (Chaussee | |
| der Enthusiasten u. a.) hat dann auch für eine Geschichte seines neuen | |
| Sammelbands "Action Sorgenkind" den Text geliefert. | |
| Die Kollaboration gelingt, Schmidt variiert die rauere, slanggefärbte | |
| Diktion Mawils ein wenig. Aber eigentlich hätte der die Unterstützung gar | |
| nicht gebraucht. Das demonstrieren die übrigen, wunderbaren Solonummern, | |
| nicht zuletzt "Welcome Home", eine lange, die zweite Hälfte des Bandes | |
| füllende Geschichte über einen sehr durchwachsenen Urlaub in einem | |
| südfranzösischen Hippie-Camp. Wie schon in seinen Vorgängerbüchern "Wir | |
| können ja Freunde bleiben" und "Die Band" erzählt Mawil Alltagsabenteuer | |
| aus der Hauptstadt. Komisch, durchaus pointiert, wenn es die Situation | |
| hergibt, aber er nimmt seine profanen, ephemeren Stoffe eben doch wichtig | |
| genug und traut ihnen auch genug zu, um sie nicht permanent mit Jokes | |
| zustellen zu müssen. Und über all dem schwebt diese milde Melancholie, der | |
| man die Zurückweisungen und Lumpereien des Lebens anzumerken glaubt - seine | |
| leicht verschattete Variation über das eigene "Schtttotttern" gibt ein paar | |
| autobiografische Verständnishilfen. In Verbindung mit seinem kruden, | |
| genial-dilettantischen Strich hat er hier eine sehr adäquate Form gefunden, | |
| mit den urbanen Realitäten umzugehen. | |
| "Love and Rockets" | |
| Stilistisch auf einem ganz anderen, originären Weg befindet sich Line Hoven | |
| mit ihrem Debüt "Liebe schaut weg". Diese Familienrecherche, die pointiert | |
| und mit viel szenischem Gespür ihren US-amerikanischen und deutschen | |
| Wurzeln nachgeht, von den 30ern bis zu ihrer eigenen Kindheit in den | |
| 70er-Jahren, besticht nicht nur durch ihre konzise Erzählweise, sondern | |
| auch durch die unkonventionelle Technik. | |
| Dieser Comic ist nicht gezeichnet, sondern aus Schabkarton gekratzt, und | |
| daraus resultiert die fast schon naiv anmutende Holzschnitthaftigkeit der | |
| Figuren, die kontrastiert wird von ihrer stupenden Präzision und | |
| Effektivität bei Materialstrukturen und Schattierungen. Der Verlag begann | |
| in den frühen 90ern, sich mit der Underground-Serie "Love and Rockets" der | |
| Hernandez-Brüder zu profilieren, und der US-Alternativ-Comic bildet bis | |
| heute einen Schwerpunkt, vertreten etwa durch Daniel Clowes, Charles Burns, | |
| Craig Thompson und Adrian Tomine, der seinen lakonischen | |
| Ligne-claire-Short-Stories, versammelt in den beiden Bänden "Echo Avenue" | |
| und "Sommerblond", gerade mit "Halbe Wahrheiten" ein sehr schönes | |
| abendfüllendes Album hat folgen lassen. Mittlerweile hat sich das Programm | |
| noch um die französische Independent-Szene, vor allem die Autoren des | |
| Verlags LAssociation, erweitert. | |
| Besonderes Augenmerk liegt auf dem facettenreichen, vielgestaltigen Werk | |
| Lewis Trondheims. Sein kürzlich erschienenes Album "Außer Dienst" ist ein | |
| räsonierender und also notwendig etwas textlastiger Comicessay über das | |
| "Problem des alternden Comicautors". Trondheim gönnt sich eine | |
| achtzigtägige Auszeit vom Albenzeichnen, um auf neue Ideen zu kommen und | |
| weil er sich nicht verschleißen will. Denn er hat einen entsetzlichen und | |
| durch viele Beispiele gestützten Verdacht: "Comicautoren altern schlecht." | |
| Bald merkt er allerdings, dass ihm seine kreative Pause nicht bekommt. | |
| "Macht man nichts, rostet man ein. Macht man was, erschöpft es sich", ein | |
| Hauptwiderspruch, den auch Trondheim nicht auflösen kann. Aber indem er | |
| recherchiert, befreundete Künstler wie Christophe Blain und Joann Sfar | |
| befragt und Interviews macht (mit Altmeistern wie Moebius) und das alles | |
| mitzeichnet, schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe: Er hat wieder Tinte | |
| auf der Feder und bekommt seine Schaffensängste unter Kontrolle. In einem | |
| Gespräch mit Mathieu Lauffray formuliert Trondheim sein Erfolgsrezept: | |
| "Vielleicht ist es ja auch eine Frage des kreativen Kapitals." - "Ja, ja, | |
| man muss es anreichern, um es nicht zu erschöpfen." | |
| Das klingt banal, aber ein Künstler wie Moebius beweist auch, dass man | |
| weiterhin Spaß und Erfolg haben und sich weiterentwickeln kann. Ebenfalls | |
| der Kooperation mit LAssociation verdanken sich die Bücher des | |
| Frankokanadiers Guy Delisle, Trondheims Freund und Kollege, der schon mit | |
| "Shenzhen", seinem Tagebuch aus der chinesischen Wirtschaftsmetropole, | |
| reüssierte und dessen zweiter Tagebuchcomic, "Pjöngjang", ebenfalls bei | |
| Reprodukt erschienen ist. Delisle wird als Supervisor hierher geschickt, | |
| weil seine Trickfilmfirma die kostspielige Zeichenarbeit ins offenbar | |
| konkurrenzlos günstige Nordkorea ausgelagert hat. Er berichtet nun | |
| anekdotisch und ohne sich auf große ideologische Erörterungen einzulassen | |
| vom kalten und traurigen Alltag im Musterland des Kommunismus - was er so | |
| an Alltag mitbekommt, denn er steht unter ständiger Beobachtung, darf in | |
| der Stadt letztlich keinen Schritt ohne seinen Sonderbewacher "Captain Sin" | |
| tun. | |
| Trotzdem sieht er einiges: die gut geschmierte Agitpropmaschine, der | |
| erzwungene Götzendienst an den großen Führern Kim Il Sung und Kim Jong Il | |
| mit all seinen bizarren Lügen, Legenden und Albernheiten, den nationalen | |
| Größenwahn. Auf Delisles Frage, wo denn hier die Behinderten seien, denn er | |
| sehe keine, antwortet Sin: "Es gibt keine … Wir sind eine sehr homogene | |
| Nation, und alle Nordkoreaner kommen stark, intelligent und gesund zur | |
| Welt." Am traurigsten stimmt ihn jedoch der unsägliche Drill der | |
| Wunderkinder, die mit fratzenhaft eingeklinktem Lächeln ihre Kunststücke | |
| vorführen zum Lobe des Vaterlands. | |
| Kurz, visuell und präzise | |
| Die Reprodukt-Verleger haben eine Vorliebe für das autobiografische | |
| Erzählen. "Mittlerweile sind wir ja schon mit Mawil und Line Hoven bei der | |
| dritten Generation von Autoren, die das betreiben", sagt Rehm. "Wenn wir | |
| mal mit Robert Crumb anfangen, dem Vorreiter, und danach dann etwa die | |
| Hernandez-Brüder mit ,Love & Rockets' nehmen. Es ist einfach ein Thema, das | |
| sich im Comic gut umsetzen und besonders dicht erzählen lässt." Trotz der | |
| enormen Medienresonanz auf sein Programm zieht der Markt noch nicht so | |
| richtig. Comics haben es immer noch schwer im konventionellen Buchgeschäft. | |
| Und so muss sich Rehm nebenbei immer noch bei größeren Verlagen verdingen - | |
| etwa als Letterer. "Weniger, um den Verlag zu finanzieren, der trägt sich | |
| mittlerweile selbst, sondern um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Auch | |
| wenn wir von Jahr zu Jahr etwas mehr verkaufen und 2.000 Euro im Monat als | |
| Gehälter auszahlen können. Immerhin. Es ist schon noch Selbstausbeutung | |
| hier bei uns, aber in geringerem Maße, als es das mal war." | |
| Und er sieht optimistisch in die Zukunft, denn das Comicgenre könnte auch | |
| von den sich sukzessiv wandelnden Wahrnehmungsgewohnheiten profitieren. | |
| "Ich glaube, dass sich die Gesellschaft durchs Internet ein bisschen mehr | |
| auf das Visuelle auszurichten scheint. Man lässt sich nicht mehr so gern | |
| auf längere Texte ein, sondern wählt eher das Kurze, Präzise und den | |
| visuellen Reiz." Möglicherweise wird ja die Graphic Novel das, wenn schon | |
| nicht Reputation, so doch immerhin gute Absatzzahlen verheißende Genre der | |
| Zukunft. Insofern ist es kein Zufall, dass neuerdings auch klassische | |
| Literaturverlage wie Kiepenheuer & Witsch und S. Fischer Comics ins | |
| Programm nehmen. | |
| 15 Jul 2008 | |
| ## AUTOREN | |
| Frank Schäfer | |
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