# taz.de -- Stadtentwicklung in Berlin: Die Wut der Wohnenden | |
> Der Bedarf an neuen Wohnungen ist riesig, aber wenn sie gebaut werden, | |
> gibt es oft Streit. Das zeigt auch die Debatte in der Ilsestraße im | |
> Stadtteil Karlshorst. | |
Bild: Neubau in Berlin Kreuzberg | |
Viel zu wenige Parkplätze, überfüllte Schulen, die Spielplätze sollen auch | |
weg …“ Überfallartig stürzt eine Frau um die 60 auf die ankommenden | |
Menschen im Vorraum des Audimax der Hochschule für Technik und Wirtschaft | |
zu. Sie spricht schnell, immer wieder deutet sie auf die ausliegenden | |
Listen neben ihr. Sie sammelt Unterschriften gegen etwas, vor dem sich | |
viele BerlinerInnen fürchten: die Veränderung ihres Kiezes durch den Neubau | |
von Wohnungen. | |
Die Frau ist Mitglied der Bürgerinitiative „Rettet den Ilse-Kiez“ und | |
betreut den Stand auf einer Veranstaltung der Bezirksverwaltung | |
Lichtenberg. Die will über das Bauvorhaben an der Ilsestraße in Karlshorst | |
informieren und die BürgerInnen beteiligen. So wie es der neue | |
Koalitionsvertrag vorsieht. Eigentlich geht es schon gar nicht mehr um das | |
Ob, sondern um das Wie: wie die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Howoge | |
ihr Grundstück bebaut. Eine Machbarkeitsstudie wurde durchgeführt – | |
Baurecht besteht. | |
Was sich im Ilse-Kiez abspielt, ist kein Einzelfall. Stadtweit schwelen | |
Konflikte zwischen AnwohnerInnen, EigentümerInnen und VertreterInnen aus | |
Politik und Verwaltung. Laut einer Mitgliederbefragung vom Bund Deutscher | |
Architekten verzögere sich derzeit der Bau von etwa 2.000 Wohnungen durch | |
den Protest von Bürgerinitiativen. Eine weitere Interessengruppe, die der | |
Wohnungssuchenden, kommt dabei selten zu Wort. | |
Der Ilse-Kiez besteht aus zehn Wohnblöcken aus den 50er Jahren. In ihrer | |
Mitte liegen großzügig angelegte Innenhöfe mit viel Grün und wenig Beton. | |
Einige AnwohnerInnen haben hier zu DDR-Zeiten selbst Bäume gepflanzt. An | |
ihnen hängen nun Schilder mit der Aufschrift: „Dieser Baum wurde von den | |
Mietern der Ilsestraße gekauft, gepflanzt und gepflegt. Wir möchten nicht, | |
dass er dem Bau von Luxuswohnungen geopfert wird.“ Die Identifikation mit | |
dem Kiez sei groß, kommentiert Gerd Scheibe, ein Sprecher der | |
Bürgerinitiative, die Aktion. Der Kiez ist ein kleines Berliner Stadtidyll | |
aus einer Zeit, in der ein massiver Bevölkerungszuwachs noch nicht absehbar | |
war. | |
## Angespannte Stimmung | |
Scheibe signalisiert Dialogbereitschaft. Sie seien nicht gegen neue | |
Wohnungen, aber gegen die Bebauung von Grünflächen. Zumal vor allem | |
Wohnungen geschaffen werden, die sich die untere Mittelschicht nicht | |
leisten könne: „Für die 30 Prozent geplanten WBS-Wohnungen zu reich, für | |
den Rest zu 10 Euro den Quadratmeter zu arm. Und das soll sozial sein?“ Um | |
den Mietspiegel bei Neubau jedoch auf unter 10 Euro zu senken, müsste das | |
schuldengebeutelte Land mit Subventionen helfen. | |
Der Saal des Audimax ist bei der Informationsveranstaltung gut besucht. Der | |
Großteil im Rentenalter oder kurz davor. Die Stimmung angespannt. Im | |
Publikum sitzt Susanne M.: „Mich ärgert, dass die Fehler der Vergangenheit | |
auf dem Rücken der kleinen Leute ausgetragen werden.“ Der Zuzug | |
wohlhabenderer Leute schüre die Angst vor Mieterhöhungen. Der Zuzug von | |
Ärmeren in die WBS-Wohnungen, darunter ja auch „ausländische Kinder“, sto… | |
auf Berührungsängste. | |
Sie könne die Dringlichkeit zu bauen verstehen, aber es müsse | |
sozialverträglich sein. Dann setzt sie nach: „Es gibt in Berlin ja gute | |
Beispiele, wo am Ende das Geld hinfließt.“ Eine Anspielung auf den BER. Es | |
zeigt sich eine ganze Bandbreite von Emotionen: Angst vor Veränderung und | |
Verdrängung. Verdrossenheit, Misstrauen, Wut. | |
Ein an dem Abend oft gehörtes Argument ist außerdem, es gebe genug andere | |
verfügbare Flächen. Bekannt ist jedoch: Selbst mit der Erschließung aller | |
Freiflächen wäre der Bedarf an Wohnraum nicht gestillt. Hinzu kommt der | |
jahrzehntelange Ausverkauf landeseigener Grundstücke an Investoren. Der | |
Spielraum für sozialen Wohnungsbau ist so ohnehin stark begrenzt. | |
## „Behutsame Nachverdichtungen“ | |
Mit „anderen Flächen“ sind Industriebrachen, Parkplatzflächen im | |
Innenstadtbereich, einstöckige Supermärkte, über denen drei Geschosse | |
Wohnungen Platz hätten, gemeint. „Nachverdichtung“ nennt sich das. Ein | |
städtebauliches Konzept und Teil des großen Berliner Schlachtplans zum | |
Wohnungsbau: Der Bestand der städtischen Gesellschaften soll um 55.000 | |
Wohneinheiten wachsen. Etwa 17.000 davon hätten Platz in bestehenden | |
Siedlungen. Die „behutsamen Nachverdichtungen“ stehen voll im Trend der | |
Nachhaltigkeit, da der Flächenverbrauch reduziert und Ressourcen gespart | |
werden. Wasser, Strom, Verkehrsanbindung, Baurecht – alles schon vorhanden. | |
Stefanie Frensch, Geschäftsführerin der Howoge, betritt die Bühne. Ohne | |
Umschweife appelliert sie an ein Problem, von dem das Publikum am | |
allerwenigsten hören will: „Denken Sie an die, die verzweifelt eine Wohnung | |
suchen!“ Es folgen Mitleidsraunen und Gelächter. Manche rufen: „Falsche | |
Diskussion!“ oder „Was geht uns das an?“ | |
Ein Stadtplaner ruft nun dazu auf, sich an Stellwänden mit vier | |
verschiedenen Bebauungsvarianten vertraut zu machen. An jeder stehen | |
ReferentInnen und ArchitektInnen. Eine kleine Gruppe ruft rhythmisch zum | |
Boykott auf: „Sitzen bleiben! Sitzen bleiben!“ Doch bald darauf verstummt | |
sie wieder. Das Publikum setzt sich langsam in Bewegung. | |
Die Präsentation der Varianten ist Teil eines sogenannten | |
Bebauungsplanverfahrens, kurz „B-Plan“. Dabei werden ein Entwurf und | |
manchmal Varianten zur Diskussion gestellt. Bei Infoveranstaltungen und | |
runden Tischen sollen AnwohnerInnen ihre Bedürfnisse äußern. Am Ende stimmt | |
die Bezirksverordnetenversammlung über den neuen Entwurf ab. Klingt gut, | |
aber klar ist: Ohne Kompromisse von allen Seiten geht es nicht. Und: Ein | |
solches Verfahren dauert mindestens zwei Jahre. | |
## Politik in die Pflicht | |
Christine Edmaier, Präsidentin der Architektenkammer, findet deswegen, man | |
solle auf langwierige B-Pläne verzichten und noch vor der Ausschreibung die | |
BürgerInnen einbeziehen. Sie fügt hinzu: „Es reicht nicht, nur die | |
‚Berufsbürger‘ zu beteiligen. Es muss ein Querschnitt der Bevölkerung am | |
Tisch zusammenkommen mit Menschen, die dann als Experten für ihr Quartier | |
fungieren. Dann wird auch deutlich, dass nicht immer alle nur dagegen sind. | |
Es ist unsere Pflicht als Planende, die Interessen der Allgemeinheit im | |
Auge zu behalten.“ | |
Der Bund Deutscher Architekten zieht zudem die Politik in die Pflicht und | |
wünscht in einem offenen Brief an Berlins Regierenden Bürgermeister Michael | |
Müller „in Zeiten, in denen bezahlbarer Wohnraum für Berlin von allen | |
Seiten gefordert wird, spürbare Unterstützung von den politischen | |
Entscheidungsträgern“. | |
An einer Stellwand zeigt eine Architektin auf die Abstandsflächen der | |
Gebäude. Einige scheinen interessiert, andere weniger. Später sagt sie: „Es | |
mangelt den Leuten auch an räumlichem Vorstellungsvermögen. Es ist schwer | |
zu vermitteln, welche Verbesserungen eine Veränderung auch bringen kann.“ | |
Die ArchitektInnen hätten gern die Details ihres ursprünglichen | |
Wettbewerbsentwurfs vorgestellt, die im B-Plan noch gar nicht vorkommen: | |
neue Kita, Photovoltaik, Blockheizkraftwerk, mehr Spielflächen … Das | |
Bezirksamt aber blieb bei den Varianten des B-Plans, um den BürgerInnen | |
Offenheit zu signalisieren. | |
Zum Schluss die offene Diskussion. Wieder Rufe aus der Menge: „Wer kümmert | |
sich um die fehlenden Schulplätze? Wo soll der Rettungshubschrauber | |
zukünftig landen? Was wird aus den Füchsen, Vögeln und Wildhasen?“ | |
## „Ein Experiment für alle“ | |
Die Liste der bevor- oder bereits bestehenden Defizite scheint schier | |
endlos. Dann beginnen Parteivertreter von CDU, der Linken und AfD mit ihren | |
Gegenreden. Auch den landeseigenen Baugesellschaften müsse endlich „ein | |
Riegel vorgeschoben“ werden, heißt es. Birgit Monteiro von der SPD und | |
Bezirksstadträtin für Stadtentwicklung steht als einzige politische | |
Vertreterin, die nicht per se dagegen ist, an diesem Abend allein da. | |
Abrupt wird die Veranstaltung geschlossen. „Es ist ein Experiment für alle. | |
Man wird sehen, was die runden Tische bringen“, sagt Monteiro noch. | |
Draußen sind die Unterschriftenlisten wieder zusammengerollt, der Stand der | |
Bürgerinitiative ist gepackt. Gerd Scheibe und seine MitstreiterInnen haben | |
der Anwohnerschaft allerhand Argumente gegen eine Bebauung an die Hand | |
gegeben. Und die Wohnungssuchenden? Die brauchen dringend ein Sprachrohr. | |
25 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Nora Belghaus | |
## TAGS | |
Sozialer Wohnungsbau | |
Katrin Lompscher | |
Mieterinitiativen | |
Kolumne Wirtschaftsweisen | |
Mietspiegel | |
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin | |
Katrin Lompscher | |
Mietenprotest | |
Gastkommentar | |
Nachruf | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kolumne Wirtschaftsweisen: Pankower Grünvernichtung | |
In Pankow soll eine baumbestandene Grünfläche zwischen Wohnblöcken bebaut | |
werden. Die Mieter*innen der landeseigenen Wohnungen wehren sich. | |
Massenhafte Mieterhöhungen in Berlin: Ein Geschenk für die Vermieter | |
Viele Eigentümer erhöhen derzeit die Mieten, gestützt auf den im Mai | |
veröffentlichten Mietspiegel – meist allerdings zu Unrecht, kritisiert der | |
Mieterverein. | |
Der Berliner Wochenkommentar II: Doch nicht alles Müller, oder was? | |
Laut Umfrage des Instituts Civey ist gerade mal gut ein Viertel der | |
BerlinerInnen mit der Arbeit des rot-rot-grünen Senats zufrieden. | |
Die Wochenvorschau für Berlin: Mit Plüschtier zum Gottesdienst | |
Nach dem Panda-Hype geht es wieder an die Arbeit. Termine über Termine rund | |
um Bauen und Stadtentwicklung, Fahrradhelme, CSD und – Haustiere. | |
Protest gegen Verdrängung in Berlin: Kira çok yüksek – die Miete ist zu ho… | |
Zum fünften Geburtstag ihres Protesthäuschens am Kottbusser Tor: ein | |
Gespräch mit der Initiative Kotti&Co über die Kraft gemeinsamen | |
Widerstands. | |
Gastkommentar zu Rot-Rot-Grün in Berlin: Mehr APO wagen | |
Grüne und Linke wollen Demokratie auch jenseits der Parlamente fördern. Die | |
Berliner Initiativen sollten sich deswegen zu einem Netzwerk | |
zusammenschließen. | |
Trauer um Werner Orlowsky: Der erste grüne Stadtrat Deutschlands | |
Er war ein Pionier der behutsamen Stadterneuerung. Nun ist Werner Orlowsky | |
im Alter von 87 Jahren gestorben. |