# taz.de -- Puerto Rico und USA: Nummer 51 ist pleite | |
> Die Karibikinsel ist verschuldet und abhängig von Entscheidungen, die in | |
> Washington getroffen werden. Wer kann, geht. | |
Bild: Die Kämpfer der Unabhängigkeitsbewegung sind alt, verstorben oder inhaf… | |
San José taz | „Willkommen in der ältesten Kolonie.“ Die Inschrift prangt | |
auf englisch entlang der Festungsmauer aus dem 15. Jahrhundert, die den | |
historischen Stadtkern von San Juan, mit seinen engen Gassen, gusseisern | |
vergitterten Fenstern und Patios voll Blumentöpfen vor Eindringlingen | |
schützen sollte. | |
Kunststudenten haben die Mauer bemalt, während eines Streiks im Frühjahr. | |
Der dauert fast 70 Tage. Anlass waren Streichungen von fast 512 Millionen | |
US-Dollar des Haushalts ihrer Universität. Die Schriftzüge auf der Mauer | |
handeln aber auch von Korruption und Vetternwirtschaft. Und dem großen | |
Bruder – dem Nachbarn hinter der Dominikanischen Republik, hinter Haiti und | |
hinter Kuba – der bestimmt, was auf der Insel geschieht. Die USA. | |
Täglich ziehen Ströme von Touristen an den Wandgemälden vorbei. Die meisten | |
kommen aus den USA und fühlen sich, als wären sie weiterhin dort. Vier | |
Flugstunden von New York entfernt finden sie karibische Traumstrände und | |
europäische Architektur. Sie müssen keine internationale Grenze überqueren, | |
der Dollar ist auch hier ihr Zahlungsmittel. Hotels, Restaurants und | |
Apotheken gehören zu vertrauten Ketten. Dass die Mehrheit der Insulaner | |
Spanisch spricht, stört nicht, solange das Personal, das bedient, Englisch | |
kann. | |
Die Armut spielt sich fern der Touristenrouten ab. US-Besucher sehen | |
allenfalls die Schilder, die in vielen Straßen zum Bild gehören. „Zu | |
vermieten“. „Zu verkaufen“. | |
Seit Beginn der Krise hat auch Rentner Julio Alberto Candario spürbar | |
weniger Geld. Er nennt seine Dollars „Pesos“ – als hätten die USA die In… | |
erst gestern und nicht vor 119 Jahren von Spanien übernommen. Er fährt | |
jeden Samstagabend mit seinem Rollstuhl, an dem ein puerto-ricanisches | |
Fähnchen flattert, zur Placita, wo aus Bars und Restaurants Salsamusik | |
hallt und Paare auf den Trottoirs tanzen. Rum, Eis und einen Plastikbecher | |
bringt er sich mit. Er ist kein Fan der USA. Aber er möchte nicht, dass | |
sich Grundsätzliches ändert. „Wir sind eine Kolonie“, sagt er, „das Volk | |
will es so.“ | |
Der reiche Hafen verarmt | |
Reicher Hafen nannten die Europäer die Insel, als sie dort Gold entdeckten. | |
Spanien – und später die USA – hielten an Puerto Rico auch dann noch fest, | |
als rundum ein Land nach dem anderen unabhängig wurde. | |
524 Jahre nach Christopher Columbus’ Ankunft klafft nun ein gigantisches | |
Loch in den Kassen Puerto Ricos, das unstopfbar scheint. Die Insel ist mit | |
74 Milliarden Dollar verschuldet, und das bei gerade einmal 3,4 Millionen | |
Einwohnern. Hinzu kommen 49 Milliarden Dollar, die zur Finanzierung der | |
Renten fehlen. Puerto Ricos Verschuldung ist die größte in der Geschichte | |
der USA. Selbst die 18 Milliarden Dollar Schulden der einstigen Autostadt | |
Detroit fallen im Verhältnis gering aus. | |
Im Sommer 2015 gab die Inselregierung auf. Der damalige Gouverneur erklärte | |
die Zahlungsunfähigkeit und bat Washington um Hilfe. Er hoffte auf ein | |
Moratorium. Stattdessen wurde seine Insel unter Vormundschaft gestellt. | |
Dagegen wehren konnten sich die Inselbewohner nicht: Sie dürfen nicht an | |
den Präsidentenwahlen teilnehmen, ihre Delegierten im Kongress in | |
Washington haben kein Stimmrecht. | |
Doch eben dieser richtete eine Junta für die finanzielle Oberaufsicht ein. | |
An ihrer Spitze: die in Amerika geborene Ukrainerin Natalie Jaresko, die | |
zuvor Finanzministerin in Kiew war. „Es war schmerzhaft“, sagte Jaresko | |
über ihre Arbeit in der Ukraine und als Vorgeschmack für Puerto Rico, „aber | |
nichts tun wäre schlimmer gewesen.“ | |
„Die „Plündererei muss aufhören“, rief jemand beim ersten Treffen der | |
Junta. Wenige Verhandlungen später verfügte das Gremium drastische | |
Sparmaßnahmen. Unter anderem will es die Renten und Gesundheitsausgaben | |
kürzen, 167 Schulen schließen und mehr als 500 Millionen Dollar aus dem | |
Haushalt der Universität von Puerto Rico abziehen. | |
Den Studenten reicht's | |
Heute sind die meisten Betroffenen auf der Insel auf Tauchstation. Manche | |
haben Anwälte, die raten, sich mit politischen Stellungnahmen | |
zurückzuhalten. Die früheren Unabhängigigkeitskämpfer sind entweder tot, im | |
Gefängnis, oder alte Männer. Die Gläubiger von der Wall Street streiten vor | |
Gericht – darüber, wer von ihnen prioritär ausgezahlt wird. | |
Doch Ende März gingen 60.000 Studenten der Universität von Puerto Rico in | |
die Gegenoffensive. Sie begannen einen Streik, um gegen die Kürzungen des | |
Universitätsbudgets um 20 Prozent zu protestieren. „Ich habe hart | |
gearbeitet, um an die Universität zu kommen“, sagt die 19-Jährige | |
Journalismusstudentin Kassandra Sanción, „jetzt soll ich eine Ausbildung | |
bekommen, mit der mich vielleicht niemand haben will.“ | |
Es war der fünfte Streik in der Geschichte der Universität und der längste. | |
Doch zugleich auch der einzige, bei dem die Inselregierung kein | |
Zugeständnis macht. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, dass ein privater | |
Universitätsbetreiber einsteigen will. Nach 67 Tagen gaben die Studenten | |
auf. „Wir haben Bewusstsein geschaffen“, sagt die 21-jährige Präsidentin | |
der Studenten und angehende Ökonomin, Wilmarí de Jesus. Der 20-jährige | |
Philosophiestudent Pablo Santiago will die Insel so schnell wie möglich | |
verlassen, doch vorher muss er sein Studium beenden. Die Gebühren für | |
auswärtige Studenten könnte er sich selbst an den günstigsten Universitäten | |
der USA nicht leisten. | |
Hunderttausende Puerto Ricaner denken wie Santiago längst nicht mehr über | |
die Unabhängigkeit nach. Sondern über ihr eigenes Schicksal. In den letzten | |
zehn Jahren haben 400.000 die Insel verlassen – ein Zehntel der | |
Bevölkerung. Weil sie die US-Staatsangehörigkeit haben, können sie | |
jederzeit in die USA gehen. | |
Schon heute leben dort mehr als fünf Millionen Puerto Ricaner, | |
anderthalbmal so viele wie auf der Insel selbst. Im Schnitt gehen jeden Tag | |
fünf Ärzte und Krankenpfleger fort. Ihre Abwanderung ist Teil des | |
Teufelskreises: Je mehr gehen, desto weniger Steuern kommen in die Kassen | |
der Insel, umso weniger können Orte und Wirtschaftszweige gefördert werden. | |
Den Leerstand übermalen | |
„Wollen sie es kaufen?“, fragt die Parkwächterin, die ihren Tisch in den | |
Schatten vor dem Eingang zu einem vierstöckigen Mehrfamilienhaus in dem | |
gutbürgerlichen Stadtteil Condado, gestellt hat. Die Glasscheiben des | |
70er-Jahre-Baus fehlen, einige Fenster sind zugemauert. Nur das Erdgeschoss | |
wird genutzt. Dort stehen Autos, die die Parkwächterin bewacht. Vor dem | |
Haus wartet auch ein Chauffeur, auf seinen Boss, einen Mann aus den USA, | |
der in Puerto Rico verlassene Häuser aufkauft, renoviert und wieder | |
vermietet. Ein gutes Geschäft. | |
Anders gehen Künstler im Nachbarstadtteil Santurce vor. Als dort immer mehr | |
Geschäfte schlossen, begannen sie, den Leerstand für ihre Kunst zu nutzen. | |
Sie beschossen eine stillgelegte Tankstelle mit Farbkanonen. Malten Szenen | |
aus der Verschleppung von Menschen aus Afrika in die Karibik auf eine | |
Bankfassade. Und applizierten psychedelische Motive auf Schaufenster. | |
José Cruz „Cano“, der eine Bar an der Cerra-Straße leitet, sagt: „Wir h… | |
eine kaputte Wirtschaft, unsere Regierung ist abgebrannter als wir, und in | |
anderen Ländern hätte es längst eine Revolution gegeben“, sagt er. „Aber | |
wir haben eine koloniale Mentalität. Deswegen klappt die Austerität.“ | |
Viele Faktoren habe zu Puerto Ricos Krise geführt. Fehlinvestitionen | |
zurückliegender Inselregierungen, wie die Hochbahn, die der Vater des | |
gegenwärtigen Gouverneurs von Puerto bauen ließ. Die kurze Strecke, die | |
nicht einmal in die Innenstadt führt, hat mehr als 2 Milliarden Dollar | |
verschlungen. | |
Einer der wichtigsten Gründe ist jedoch, dass die USA Steuererleichterungen | |
für Unternehmen, die in Puerto Rico tätig sind, abgeschafft hat. Als 2006 | |
Pharmakonzerne, die jahrzehntelang in Puerto Rico produziert hatten, | |
weiterzogen, schnellte die Arbeitslosigkeit in die Höhe. Anders als | |
beispielsweise Griechenland hat die lokale Regierung den übermächtigen USA | |
nichts entgegenzusetzen, nichts, womit es drohen oder verhandeln kann. | |
Fisch als Währung | |
Heute leben mehr als 44 Prozent der Insulaner in bitterer Armut. Sie sind | |
mit Lebenshaltungskosten konfrontiert – vom Strom über Leitungswasser und | |
Benzin bis hin zu Lebensmitteln –, die über denen von New York liegen. Die | |
monatlichen Lebensmittelbeihilfen sollen nun auch noch gekürzt werden. | |
Der 66-Jährige Jorge Camacho Ortiz wird davon betroffen sein. Er lebt in | |
Salinas, einer Gemeinde auf der Südseite von Puerto Rico, wo Nachbarn | |
Plastik und Bierbüchsen sammeln, um etwas Geld zu verdienen. Camacho Ortiz | |
stockt seine Rente von 525 Dollar mit einer kleinen Küstenfischerei auf. | |
Oft verkauft er die Fische nicht, sondern bezahlt seine Rechnungen mit | |
ihnen. Ihm ist Bitterkeit anzumerken, als er sagt: „Wir sollten die Leute | |
finden, die uns betrogen haben.“ | |
Er meint damit auch die Inselregierung. Die organisiert an diesem Sonntag | |
eine Volksbefragung. Die fünfte Befragung zum Status der Insel – Beibehalt | |
der Assoziierung, Unabhängigkeit oder Umwandlung in den 51. Bundesstaat der | |
USA. Als Bundesstaat könnte sich Puerto Rico nach US-Insolvenzrecht für | |
zahlungsunfähig erklären. Doch ein klares Ergebnis wird die Befragung nicht | |
bringen. Die meisten Insulaner nennen es eine Farce und werden ihr | |
fernbleiben. Und Washington ist durch ihr Ergebnis zu nichts verpflichtet. | |
Wenige Tage vor der Abstimmung ist ein Slogan auf den Mauern von San Juan | |
aufgetaucht. „Descolonizate“ – steht da: „Entkolonisiere dich“. | |
10 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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