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# taz.de -- Angst vor Abschiebung: Liegt Berlin in „Bleibistan“?
> Berlin will zwar nicht nach Afghanistan abschieben,
> Ausreiseaufforderungen verschickt das Land trotzdem. Unter afghanischen
> Flüchtlingen sorgt das für Panik.
Bild: Abschiebung aus Deutschland
Als der Ablehnungsbescheid kam, sei ihm schwindlig geworden. „Ich war so
geschockt, ich wusste nicht, wohin mit mir selbst“, sagt Jamsheed Haqiqat.
Der Brief habe ihn in frühere Angstzustände zurückgeworfen. „Nachts bin ich
schweißgebadet aufgewacht oder habe im Schlaf geschrien, ich konnte nichts
essen und hatte ständig Angst, dass die Polizei kommt.“
Seit zwei Jahren lebt der 30-jährige Systemadministrator aus Afghanistan
mit seiner Familie in Berlin, sie haben eine eigene Wohnung gefunden, die
Kinder sprechen inzwischen genauso gut Deutsch wie Dari. In Afghanistan
habe er für die Amerikaner gearbeitet, erzählt Haqiqat, daher fühle er sich
dort nicht sicher. Er habe Drohungen erhalten und sei von einem Motorrad
aus angegriffen worden.
## Angst in der Community
Mit seinem Briefumschlag aus abgegriffenem Packpapier, darin der rund
16-seitige Ablehnungsbescheid, sein Asylantrag und Zeugnisse, sitzt Haqiqat
an einem Dienstagmorgen im YAAR im Wedding. Der Verein bietet zweimal pro
Woche asylrechtliche Beratungen für Flüchtlinge aus Afghanistan an – und
hat damit zurzeit viel zu tun. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(Bamf) verschickt derzeit die Bescheide für Flüchtlinge aus Afghanistan –
darunter viele Ablehnungen. Und obwohl aus Berlin bisher niemand direkt
nach Afghanistan abgeschoben worden ist, sorgt dies für Angst in der
Community.
„Es ist zurzeit die Frage aller Fragen“, sagt Hamidullah Hassanzadeh, 21
Jahre, der ebenfalls seit zwei Jahren in Berlin lebt. Im Februar hat er
einen Ablehnungsbescheid bekommen, so wie viele seiner Freunde. „Egal wen
man trifft“, sagt er, „alle begrüßen sich mit: Hallo, wie geht’s, hast …
einen positiven oder negativen Bescheid bekommen?“ Hassanzadeh begleitet
heute selbst nur einen Freund, der sich beraten lässt. „Ich versuche, mir
nicht zu viele Sorgen zu machen“, sagt er.
## Kaum Vertrauen in Behörden
Doch das Vertrauen vieler Geflüchteter in die Behörden ist nicht besonders
groß. „Ich habe gehört, dass die Grünen und die Linken nicht abschieben
wollen, aber ich bin nicht sicher, ob das reicht“, sagt Hassanzadeh.
„Thomas de Maizière sagt, es ist sicher in Afghanistan, man kann uns
abschieben.“
Im Berliner Koalitionsvertrag heißt es: „Rückführungen in Regionen, in die
Rückführungen aus humanitären Gründen nicht tragbar sind, wird es nicht
mehr geben.“ Innensenator Andreas Geisel (SPD) stehe dazu, bestätigt die
Innenverwaltung, und bisher saß noch niemand aus Berlin in einem der
monatlichen Sammelabschiebungsflüge von Deutschland nach Kabul.
## Kein genereller Abschiebestopp
Berlin hat aber keinen generellen Abschiebestopp verhängt – weder für
Afghanistan noch für andere Staaten. „Bei jeder Abschiebung findet eine
gründliche Abwägung des Einzelfalls statt. Straftäter und/oder Gefährder
sollen auch weiterhin abgeschoben werden können, auch nach Afghanistan“,
teilt ein Sprecher der Innenverwaltung mit.
## 30 Tage Zeit
Die Bescheide erzeugten unter den Asylsuchenden Unruhe und Panik, erzählt
Amei von Hülsen-Poensgen von Willkommen im Westend – auch wegen der
scharfen Formulierungen: „Da steht dann drin, dass die Menschen 30 Tage
Zeit hätten und dann die Abschiebung drohe, viele verstehen das so, dass
sie sofort ausreisen müssen“, sagt sie. Sie versuchten vor allem, den
Menschen zu erklären, wie sie dagegen vorgehen könnten. „Die meisten
Afghanen werden hierbleiben“, sagt sie. „Aber diese Ablehnungsbescheide
verunsichern alle, sie halten die Menschen in Panik und machen ihnen das
Leben schwer.“ Vom Senat hätten sie sich mehr erhofft als diese
„Nichthaltung“.
Der Senatsverwaltung für Integration scheint diese ebenfalls nicht
auszureichen. In einem offenen Brief hatte sich der Integrationsbeauftragte
Andreas Germershausen vor einer Woche an die Initiativen in Berlin gewandt
und bedauert, dass es bisher keinen förmlichen Abschiebestopp aus Berlin
gebe. „Als Integrationsbeauftragter würde ich eine Lösung, mit der die
Betroffenen und Sie alle eine noch größere Klarheit hätten,
selbstverständlich bevorzugen“, schreibt Germershausen.
## Flüchtlingsrat fordert Stopp
„Der Innensenator sollte sich bei der Innenministerkonferenz Mitte Juni für
einen bundesweiten Abschiebestopp nach Afghanistan einsetzen“, fordert
Katharina Müller vom Flüchtlingsrat. „Es wäre wünschenswert, wenn dort au…
eine rot-rot-grüne Politik erkennbar würde.“
Ein wirklicher Paradigmenwechsel in der Abschiebepolitik, wie im
Koalitionsvertrag angekündigt, sei bisher nicht erfolgt. „Dazu müssten die
Linken und die Grünen sich stärker öffentlich positionieren und auch
politisch den Streit mit der SPD suchen. Sie signalisieren uns zwar, dass
sie unsere Forderungen unterstützen, aber mal ein netter Brief an uns
reicht nicht aus.“
## Hoffnung zerstört
Anstatt dauernd angstvolle Menschen zu beruhigen und Anwälte zu vermitteln,
würde er lieber mehr Kulturarbeit machen, sagt Kava Spartak vom Verein
YAAR. Die Menschen seien von Seiten der Behörden viel Druck und
Verdächtigungen ausgesetzt. Doch in den meisten Fällen sei eine Klage
aussichtsreich. „Die Bescheide vom Bamf sind teilweise so schlampig, dass
sich die Anwälte oft schon Erfolg beim Verwaltungsgericht versprechen“,
sagt er.
„Ich habe vieles verloren und mein früheres Leben aufgegeben, um hier eine
gute Zukunft und ein gutes Leben für meine Kinder zu finden“, sagt Haqiqat.
Dass seine Familie in Berlin zur Ruhe gekommen sei und neu anfangen konnte,
habe ihm Hoffnung gemacht. Der Schock durch die Ablehnung hat diese erst
mal wieder zerstört.
31 May 2017
## AUTOREN
Uta Schleiermacher
## TAGS
Schwerpunkt Afghanistan
Afghanische Flüchtlinge
Abschiebung Minderjähriger
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Mord
Kabul
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Afghanistankrieg
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