| # taz.de -- 50 Jahre Unabhängigkeitserklärung: Der Traum von Biafra | |
| > Im Südosten Nigerias lebt die Idee von einem eigenen Staat wieder auf. | |
| > Nnamdi Kanu wird als zukünftiger Präsident eines neuen Staates verehrt. | |
| Bild: Weiser Prophet und akkurater Offizier im Hintergrund – Nnamdi Kanu vers… | |
| Enugu/Umuahia taz | Ozor Onyebuchi hat einen seiner besten Anzüge aus dem | |
| Schrank geholt. Die frisch gebügelte Hose und die Leinenjacke leuchten | |
| schick in einem hellen Blauton. Bis vor wenigen Minuten hat Onyebuchi, der | |
| in der südostnigerianischen Stadt Enugu als Manager für ein Tagungszentrum | |
| arbeitet, noch kurze Jeans und ein schwarzes T-Shirt getragen. Jetzt hält | |
| er Handy, Notizbuch und Kugelschreiber in der Hand und nickt: „Ich bin | |
| fertig. Von mir aus können wir fahren.“ | |
| Er wirkt ein wenig aufgeregt, da sich vor einer halben Stunde eine | |
| unerwartete Möglichkeit geboten hatte. Onyebuchi wird Nnamdi Kanu treffen, | |
| den bekanntesten Befürworter eines unabhängigen Staats Biafra, der von | |
| Oktober 2015 bis April 2017 im Gefängnis saß. Nur gegen hohe Auflagen kam | |
| er vor gut vier Wochen auf freien Fuß. Eine Auflage lautet, dass er | |
| Journalisten keine Interviews geben darf. Einem Gespräch stimmt er | |
| trotzdem, ohne zu zögern, zu. Onyebuchi, der Politikwissenschaften und | |
| Internationale Beziehungen studiert hat, kommt mit. | |
| Die Fahrt von Enugu in die Stadt Umuahia verläuft meist schweigend. Die | |
| Straße, die bis in die Ölmetropole Port Harcourt führt, gilt als | |
| einigermaßen gut. In Wahrheit ist sie an vielen Stellen eine | |
| Schlaglochpiste, die nur selten vierspurig ist. Der Himmel ist | |
| wolkenverhangen. Onyebuchi sagt nicht explizit, was er von Nnamdi Kanu und | |
| seiner Bewegung „Indigenous People of Biafra“ (IPOB) hält. Doch die | |
| Biafra-Idee fasziniert ihn wie viele junge Nigerianer aus der ethnischen | |
| Gruppe der Igbo, die die Region im Südosten besiedeln. „Anfangs war ich | |
| unsicher, aber jetzt redet jeder über Biafra“, sagt er irgendwann knapp. | |
| Geht man durch Onyebuchis Heimatstadt Enugu und spricht vor allem mit | |
| jungen Menschen, so scheinen Begeisterung und Interesse tatsächlich immer | |
| größer zu werden. | |
| In Zeiten, in denen in der ganzen Welt wieder stärker über Nationalismus | |
| diskutiert wird, wollen auch die Biafra-Anhänger wieder einen eigen Staat: | |
| Biafra. Auch Onyebuchi sagt: „Wenn es in ein paar Monaten ein Referendum | |
| geben würde, dann würde ich durchaus für die Unabhängigkeit stimmen.“ Gen… | |
| vor 50 Jahren war es schon einmal so weit. Biafra spaltete sich von Nigeria | |
| ab, die Igbo gründeten ihren eigenen Staat. Im anschließenden | |
| Sezzessionskrieg starben bis zu 2,5 Millionen Menschen. Vor allem die | |
| Bilder von hungernden Kindern entsetzten damals die Welt. | |
| ## Überall sitzen Biafra-Unterstützer | |
| Vom Grauen des Kriegs spricht in Umuahia niemand mehr. Es ist die | |
| Hauptstadt des Bundesstaates Abia und wurde, nachdem Enugu von der | |
| nigerianischen Armee eingenommen worden war, auch Biafras letzte | |
| Hauptstadt. Ein Zentrum gibt es ebenso wenig wie auffällige Gebäude. | |
| Dennoch hat sich die Stadt einen Namen gemacht, da Nnamdi Kanus Elternhaus | |
| an einer ruhigen Seitenstraße steht. Seit er vorläufig aus der Haft | |
| entlassen wurde, ist es zu seinem Unterschlupf geworden. | |
| Die Mauern, die das Grundstück umgeben, sind hoch, Wachmänner stehen vor | |
| der Tür. „Handys ausschalten“, blafft einer. Emmanuel Kanu, Nnamdis | |
| jüngerer Bruder, tut sie mit einer Handbewegung ab und führt uns über den | |
| Innenhof in das Haupthaus. Überall sitzen Biafra-Unterstützer. Einige | |
| haben Flaggen in den Nationalfarben Rot, Schwarz und Grün mitgebracht, | |
| andere tragen ähnliche T-Shirts. Ozor Onyebuchi schaut nach rechts und | |
| links, sagt aber nichts. Trotzdem scheint er jede Bewegung zu registrieren. | |
| Es dauert ein wenig, bis die vorherigen Besucher aufbrechen und Emmanuel | |
| Kanu uns zum Empfangszimmer seines Bruders vorausgeht. Nnamdi Kanu sitzt | |
| zurückgelehnt in einem großen Sessel mit breiten Armlehnen. Hinter ihm | |
| steht ein Selbstporträt, das ihn in Uniform und als Staatschef eines Landes | |
| zeigt, das es nur für seine Anhänger gibt. Nicht zu Unrecht nennen ihn | |
| einige seiner Anhänger „Messias“ oder „Prophet“. Nnamdi Kanu macht sei… | |
| Sessel zum Thron. Ozor Onyebuchi hat sein Notizbuch aufgeschlagen und | |
| wartet darauf, eine Antwort auf seine drängendste Frage zu bekommen: Gibt | |
| es einen Plan für die weitere Entwicklung von Biafra? | |
| ## Der Messias redet ruhig und eloquent | |
| Kanu galt lange als laut und arrogant. Nun präsentiert er sich als ruhiger | |
| und eloquenter Redner. Er ist Direktor von Radio Biafra, einem Onlinesender | |
| mit Sitz in London. Als er im Oktober 2015 nach Nigeria reiste, wurde er in | |
| Lagos vom Geheimdienst verhaftet, der ihm eine kriminelle Verschwörung, | |
| Zugehörigkeit zu einer illegalen Organisation und Einschüchterung zur Last | |
| legte. Seitdem ist es immer wieder zu Polizeieinsätzen gegen | |
| Pro-Biafra-Demonstranten gekommen, was unter anderem die | |
| Menschenrechtsorganisation Amnesty International angeprangert hat. | |
| Aus seiner Gefängniszeit habe er noch immer ein paar Gesundheitsprobleme. | |
| Allerdings hätten die langen Monate eines gezeigt: „Mich hat das Gefängnis | |
| nicht davon abgehalten, IPOB zu führen.“ Tatsächlich war die Bewegung lange | |
| aus der öffentlichen Diskussion verschwunden und tauchte erst 2015 wieder | |
| auf. Dazu beigetragen, so interpretieren es die Biafra-Anhänger, habe | |
| ausgerechnet Präsident Muhammadu Buhari, der Muslim aus dem Norden. Sein | |
| Ansatz, Unabhängigkeitsforderungen mithilfe von Polizeieinsätzen | |
| einzudämmen, hat der Bewegung mehr genutzt als geschadet. | |
| Nach fast versöhnlichen Worten redet sich Kanu in Fahrt. Mit seinen | |
| ausladenden Gesten versucht er, dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. Es ist | |
| die Ungleichheit zwischen Nord und Süd, die Nigeria für ihn und seine | |
| Anhänger untragbar macht. „In Nigeria gibt es eine systematische | |
| Unterdrückung von Menschen aus Biafra. Das Leben ist nicht mehr | |
| lebenswert.“ Weder flucht Kanu noch wird seine Stimme laut. Vielmehr wirkt | |
| er wie ein Pastor, von denen es in Nigeria unzählige gibt und die sich | |
| riesiger Gefolgschaften erfreuen. | |
| ## Boko Haram scheint geschwächt | |
| Irgendwann werden Aussagen zu Anschuldigungen, und Kanu fängt an, mit der | |
| Angst seiner Anhänger zu spielen. Ein beliebtes Bild ist das des brutalen, | |
| unzivilisierten Muslims aus dem Norden, der Andersgläubige tötet. Bis heute | |
| heißt es hinter vorgehaltener Hand mitunter, dass die Entführung der einst | |
| 276 Schülerinnen von Chibok durch die Terrorgruppe Boko Haram | |
| wahrscheinlich nur ein politisches Komplott war, um den damaligen | |
| christlichen Präsidenten Goodluck Jonathan zu schwächen. In seiner Amtszeit | |
| konnte sich die Miliz ungehindert im Nordosten Nigerias ausbreiten. Heute | |
| scheint es, als wäre sie sehr geschwächt. Allerdings hatten die Kämpfe im | |
| Nordosten zur Folge, dass die Landwirtschaft in der Region über Jahre | |
| brachlag, was zu akuter Nahrungsknappheit geführt hat. Rund 5 Millionen | |
| Menschen können sich derzeit nicht ausreichend ernähren. | |
| „Hast du solche Straßen, die wir haben, mal in Deutschland gesehen?“, fragt | |
| Nnamdi Kanu ein paar Minuten später. Ein paar Zuhörer nicken, seufzen | |
| leicht und denken an die vielen Schlaglöcher. Schlechte Infrastruktur und | |
| Marginalisierung sind weitere Reizthemen. Dazu kommt, dass seit der | |
| Unabhängigkeit 1960 nie ein Igbo Präsident wurde und wichtige politische | |
| Ämter mit „Northerners“ – Menschen aus dem Norden – besetzt würden. | |
| Ozor Onyebuchi macht sich ein paar Notizen und hört sehr aufmerksam zu. | |
| Nach 20 Minuten ist das Treffen vorbei, da schon die nächsten Besucher | |
| warten. Der junge Mann bittet um ein Foto mit Nnamdi Kanu. Eilig werden | |
| zahlreiche Smartphones aus den Taschen gekramt und verwackelte Bilder | |
| gemacht. Zum Schluss kann Onyebuchi doch noch seine drängendste Frage | |
| loswerden: „Gibt es eigentlich einen Fahrplan, wie es nun politisch und | |
| wirtschaftlich weitergehen soll?“ Kanu antwortet bereitwillig, ohne | |
| konkret zu werden. Die Antwort ist so höflich wie schwammig. | |
| ## Sehen, wie er wirklich ist | |
| Es geht an den Wachmännern vorbei zum Auto und nach Enugu. Die Stimmung ist | |
| ausgelassen, und Onyebuchi wirkt erleichtert. Der Ausflug hat sich gelohnt. | |
| „Ich wollte sehen, wie er wirklich ist. Nnamdi Kanu ist ernsthaft und weiß, | |
| was er will“, lobt der junge Mann den IPOB-Anführer. Dennoch bleibt auch | |
| Enttäuschung zurück. Er sitzt auf dem Beifahrersitz und dreht sich zum | |
| Gespräch nach hinten um. „Nnamdi Kanu hat nur gesagt, dass die weitere | |
| Vorgehensweise für Wirtschaft und Politik noch bekannt gegeben wird. Dabei | |
| ist das doch der Kern.“ Mit einem Mal ist es ihm zu viel Gerede über | |
| Identität und Zugehörigkeit. „Das wissen wir doch alles schon. Aber um | |
| einen Staat zu führen, gehört noch viel mehr dazu.“ | |
| Bisher gibt es keine verlässlichen Angaben darüber, wie viele Menschen eine | |
| Unabhängigkeit überhaupt unterstützen würden. Außerhalb Biafras will kaum | |
| jemand etwas davon wissen. Spricht man darüber, wird meist nur eine | |
| abfällige Handbewegung gemacht, wie um eine Fliege zu verscheuchen. | |
| 30 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Gänsler | |
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