| # taz.de -- 50 Jahre Kriegsende in Nigeria: Das Biafra-Tabu | |
| > Vor 50 Jahren endete in Nigeria die Sezession des Südostens unter dem | |
| > Namen „Biafra“. Offiziell ist das kein Thema. Aber in den Köpfen schon. | |
| Bild: Kriegsveteran: Benjamin Julius Obiora Okafor, heute 82 | |
| Enugu/Umuahia taz | Die Nachmittagssonne fällt in das Wohnzimmer von | |
| Benjamin Julius Obiora Okafor. Der Lärm hupender Autors drängt hinauf zum | |
| Haus aus rötlich-braunen Backsteinen, etwas erhöht an einer viel befahrenen | |
| Straße in Enugu. Drinnen sind die Wände mit Familienfotos dekoriert: der | |
| 82-Jährige mit seiner Frau und den fünf Söhnen, die Söhne bei der | |
| Abschlussfeier an der Universität, die Enkelkinder während eines | |
| Familienfests. Der fünffache Vater zeigt auf seinen ältesten Sohn: Er wurde | |
| 1968 geboren, mitten im Krieg. Er hat überlebt – Millionen andere | |
| überlebten nicht. | |
| Der Unabhängigkeitskrieg des Südostens von Nigeria unter dem Namen „Biafra�… | |
| kostete zwischen 500.000 und drei Millionen Menschenleben, er begann am 6. | |
| Juli 1967 und endete am 15. Januar 1970. Okafor, damals ein junger | |
| Staatsbeamter, kann sich noch gut daran erinnern, wie nach zwei | |
| Staatsstreichen und Pogromen am 30. Mai 1967 der damalige Militärgouverneur | |
| der Ostregion Nigerias, Chukwuemeka Odumegwu Ojukwu, das unabhängige Biafra | |
| ausrief. | |
| „Ich war ziemlich glücklich“, sagt der Igbo. „In Nigeria hatte ich mich | |
| nicht mehr sicher gefühlt. Auch gab es keine Basis mehr für eine Einheit.“ | |
| Dabei lebte Okafor, der als Physiker für die staatliche Geologiebehörde | |
| arbeitete, vor dem Krieg fern von der Heimat in der nordnigerianischen | |
| Stadt Kaduna. | |
| Für seine Feldforschung war er viel unterwegs. Im Jahr vor der | |
| Unabhängigkeitserklärung spürte er jedoch eine steigende Anspannung | |
| angesichts der Ausschreitungen gegen die Igbos, größte Ethnie im Südosten | |
| Nigerias. „Wir fanden deshalb: Lasst doch jede Region im Land unabhängig | |
| werden. Das war die Stimmung.“ | |
| ## „Wir haben alles selbst produziert“ | |
| Nach dem 30. Mai 1967 war der Kriegsbeginn nur noch eine Frage der Zeit. | |
| Südostnigeria hält die meisten Ölvorkommen des Landes, Nigeria wollte die | |
| Ölregion nicht ziehen lassen und sich sowieso nicht in seine Bestandteile | |
| zerlegen. In Biafra selbst, erinnert sich Okafor, folgten viel Propaganda | |
| und eine immense Mobilmachung. Junge Männer wurden eingezogen und in aller | |
| Eile zu Soldaten gemacht. | |
| Der junge Physiker war für eine Armeekarriere zu gut ausgebildet, er kam | |
| stattdessen zum Fachbereich Forschung und Produktion (RAP) der | |
| Streitkräfte, um im Eiltempo Rüstungsgüter zu entwickeln und herzustellen. | |
| Es mangelte an Minen, Fahrzeugen, Waffen. „Wir haben alles selbst | |
| produziert, sogar unser eigenes Benzin. Wir hatten mobile Raffinerien, die | |
| wir innerhalb von zwei Stunden auf- und wieder abbauen konnten“, erinnert | |
| er sich. In seiner Stimme klingen Stolz und auch ein bisschen Wehmut mit. | |
| Ein Teil der Waffen und gepanzerten Fahrzeuge ist heute im Kriegsmuseum von | |
| Umuahia ausgestellt. Auf verstaubten schwarzen Fahrzeugen ist noch immer | |
| die Flagge Biafras zu sehen: eine aufgehende Sonne vor rot-schwarz-grünem | |
| Hintergrund. Das alte Patrouillenboot „NNS Bonny“ wird gerade restauriert, | |
| die übrigen Exponate sollen folgen. | |
| Mercy Aduaka, Kuratorin des Museums, führt durch die Ausstellung. Es sei | |
| unverständlich, seufzt sie, dass das Wissen der RAP nach dem Krieg nicht | |
| für zivile Zwecke genutzt wurde. Ihre Arbeit hätte gezeigt, wozu Nigeria | |
| fähig ist. | |
| Mercy Aduaka steigt die 38 Stufen in den wohl ungewöhnlichsten | |
| Ausstellungsraum hinab: in Ojukwus alten Bunker. Nachdem Biafras Hauptstadt | |
| Enugu bereits Anfang Oktober 1967 an die Armee von Nigerias | |
| Zentralregierung gefallen war, zog Biafras Sezessionsregierung nach | |
| Umuahia. Auf dem Weg in die Tiefe des Bunkers hängen heute rechts und links | |
| unscharfe Fotos von Befehlshabern beider Kriegsparteien. | |
| Unten angekommen, bleibt Aduaka vor den bekanntesten Bildern des | |
| Biafra-Krieges stehen: die hungernden Kinder, bis auf die Knochen | |
| abgemagerte Mädchen und Jungen mit riesigen Hungerbäuchen. „Sie litten an | |
| Hungerödemen“, erläutert sie, „später haben sie sich am meisten über das | |
| Kriegsende gefreut.“ | |
| ## Hungernde Kinder, abgeschnittene Bevölkerung | |
| Weltweit wurde Biafra zum Synonym für hungernde Kinder. In Enugu gehen die | |
| Bilder auch Benjamin Julius Obiora Okafor nicht aus dem Kopf. Anfang 1968 | |
| ließ er seine Frau und den neugeborenen Sohn im Dorf zurück, wo es | |
| zumindest noch etwas zu essen gab. Manchmal hörten sie wochenlang nichts | |
| voneinander. Soldaten halfen, Informationen zu übermitteln. | |
| Die Versorgungslage verschlimmerte sich, als Nigerias Armee im Mai 1968 die | |
| Hafenstadt Port Harcourt einnahm und den jungen Staat von der Außenwelt | |
| abschnitt. Aushungern galt als legitime Taktik, um die Sezession | |
| niederzuschlagen. Hilfswerke reagierten mit Luftbrücken, die größte | |
| Hilfsaktion seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Beginn der | |
| unabhängigen humanitären Nothilfe durch Aktivisten wie Ärzte ohne Grenzen. | |
| Okafor erinnert sich, dass die „Joint Church Aid“ Milch- und Eipulver und | |
| Maismehl einflog. An die Erwachsenen richtete Biafras Militärmachthaber | |
| Ojukwu Durchhalteparolen: Sie sollten Gemüse und Getreide anbauen, | |
| Fußballfelder in Äcker umwandeln und jedes verfügbare Fleckchen nutzen. „In | |
| dieser Zeit haben wir gelernt, dass viel mehr Pflanzen essbar sind als | |
| gedacht“, erinnert sich Okafor. | |
| Letzter Rückzugsort der Armee Biafras wurde Owerri. Dort gelang es im April | |
| 1969, die nigerianischen Streitkräfte zunächst zurückzudrängen. „Als die | |
| Stadt Monate später aber endgültig eingenommen wurde, war klar, dass der | |
| Krieg nicht mehr zu gewinnen ist“, so Okafor. Eine traurige Erkenntnis für | |
| den Physiker, der lange an Biafra geglaubt hatte. | |
| ## „Hallo, du Überlebender!“ | |
| Nach Kriegsende bekam er wie alle anderen Menschen aus dem Südosten 20 | |
| nigerianische Pfund für einen Neustart. Er nahm sie mit nach Kaduna, wo er | |
| als Staatsdiener seine alte Arbeitsstelle wieder antreten musste. Von | |
| Ressentiments sei nichts zu spüren gewesen, blickt er zurück. „Meine | |
| Kollegen freuten sich, dass ich wieder da war. Sie begrüßten mich mit: | |
| Hallo, du glücklicher Überlebender!“ | |
| Denn Nigerias Präsident Yakubu Gowon hatte mit Kriegsende den Slogan „Kein | |
| Sieger, keine Besiegten“ ausgegeben: ein verordneter Schlussstrich. Der | |
| Krieg und dessen Ursachen sollten [1][verdrängt und totgeschwiegen] werden. | |
| Das wirkt bis heute. Zwar sind mittlerweile Erinnerungen von Soldaten und | |
| Biafra-Romane wie „Die Hälfte der Sonne“ von Chimamanda Ngozi Adichie und | |
| „Under the Udala Trees“ von Chinelo Okparanta erschienen. Dennoch gehört | |
| der Biafra-Krieg bis heute nicht zum Schulunterricht. | |
| In diesen Tagen des 50. Jahrestags gibt es keine Veranstaltungen, um der | |
| Opfer zu gedenken. Gedenkfeiern würden zu Unfrieden führen, fürchten | |
| manche. Im Südosten wird der 15. Januar 1970 weiterhin als Tag der | |
| Niederlage gesehen. Dabei ist das Erinnern so wichtig, sagt Kuratorin Mercy | |
| Aduaka. „Wir müssen über den Krieg sprechen, gerade mit Kindern“, fordert | |
| sie, „nur so lässt sich ein neuer vermeiden.“ | |
| Auch um die Bewegungen, die weiterhin für eine Unabhängigkeit des Südostens | |
| eintreten, ist es still geworden. [2][IPOB (Indigene Menschen für Biafra)] | |
| wurde 2017 von Nigerias Regierung als Terrororganisation eingestuft. Ihr | |
| Anführer Nnamdi Kanu hält sich im Ausland auf. | |
| ## Der einsame Sezessionist | |
| Das Haus der Familie Kanu in Umuafia ist ein großes, dunkles Eckhaus mit | |
| schwarzem Metalltor. Davor stehen zwei Autos, beide mit Sand bedeckt. Das | |
| Anwesen wirkt fast verlassen, nur ein Wachmann sitzt davor. Prince Emmanuel | |
| ist der Einzige, der zu Hause ist. | |
| Der Bruder von Nanamdi Kanu führt über das Grundstück und zeigt ein paar | |
| Einschusslöcher, 2017 bei der Razzia der Armee entstanden. Da seien auch | |
| die Fensterscheiben im Erdgeschoss zersprungen. Seitdem, klagt er, wird das | |
| Haus überwacht. Die Armee hat es im Blick. | |
| Emmanuel berichtet von Verhaftungen und Gewalt gegen IPOB-Mitglieder. | |
| Einige seien spurlos verschwunden. Den Traum vom eigenen Staat will er aber | |
| nicht aufgeben. | |
| Im Gegenteil: „Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir sind zu noch | |
| größeren Opfern bereit.“ Das mag eine Einzelmeinung sein, doch im Südosten | |
| ist das Gefühl von Marginalisierung ein Dauerthema. Seit Kriegsende war nie | |
| ein Igbo Präsident von Nigeria. Auch bei der Vergabe von Regierungsämtern | |
| und Jobs sehen sie sich im Nachteil. Nigeria, so eine oft gehörte | |
| Forderung, muss grundlegend umstrukturiert werden. | |
| Alleine, also ohne den Norden Nigerias, würde Biafra besser dastehen, | |
| findet auch John Akalazu, der auf dem Railway Ogbete Market in Enugu | |
| Handtücher und Bettwäsche verkauft. Was besser wäre, kann er nicht sagen. | |
| Es ist mehr ein Gefühl. | |
| 14 Jan 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Vor-50-Jahren-begann-der-Biafra-Krieg/!5423248 | |
| [2] /50-Jahre-Unabhaengigkeitserklaerung/!5409960 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Gänsler | |
| ## TAGS | |
| Nigeria | |
| Biafra | |
| Unabhängigkeit | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Nigeria | |
| Nigeria | |
| Westafrika | |
| Afrika | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Separatismus in Nigeria: In Biafra wächst die Unruhe | |
| Nicht alle Angehörigen der Igbo in Nigerias Biafra-Region wollen die | |
| Unabhängigkeit. Ein paramilitärischer Arm der Bewegung kämpft trotzdem | |
| dafür. | |
| Zusammenstöße in Nigeria: Biafra ist nirgends | |
| Auf Rufe nach Unabhängigkeit im Südosten reagiert der Staat mit | |
| Terrorvorwürfen. Es gibt Gerüchte über ethnische Unruhen. | |
| 50 Jahre Unabhängigkeitserklärung: Der Traum von Biafra | |
| Im Südosten Nigerias lebt die Idee von einem eigenen Staat wieder auf. | |
| Nnamdi Kanu wird als zukünftiger Präsident eines neuen Staates verehrt. | |
| Zum Tod des Schriftstellers Achebe: Ein großer Geschichtenerzähler | |
| Der Nigerianer Chinua Achebe, meistgelesener Schriftsteller des | |
| postkolonialen Afrika, ist tot. Sein Werk inspirierte Generationen. |