# taz.de -- Entführte Mädchen in Nigeria: Über Geiseln spricht man nicht | |
> Hunderte in Chibok entführte Schulmädchen sind noch immer in der Gewalt | |
> von Boko Haram. Der Politik sind sie inzwischen egal. | |
Bild: Bring back our girls: Protestkundgebung in Lagos | |
LAGOS taz | Als er am 29. Mai 2015 neuer Präsident Nigerias wurde, sagte | |
Muhammadu Buhari: „Wir können nicht behaupten, Boko Haram besiegt zu haben, | |
wenn wir nicht die Schulmädchen von Chibok und all die anderen unschuldigen | |
Geiseln gerettet haben.“ | |
Heute sind immer noch 195 der ursprünglich 276 Mädchen, die die | |
islamistischen Rebellen von Boko Haram in der Nacht des 14. April 2014 | |
verschleppten, als sie die Oberschule von Chibok stürmten, die Wächter | |
töteten, das Lagerhaus dem Erdboden gleichmachten und die Schlafsäle | |
anzündeten, in der Gewalt der Aufständischen. | |
Seitdem sind 19 der Eltern der Entführten verstorben. Eine noch größere | |
Anzahl kämpft gegen stressbedingte lebensbedrohliche Krankheiten, alle sind | |
psychisch am Ende. | |
2014 hieß der Präsident Nigerias noch Goodluck Jonathan. Er bezweifelte | |
zunächst, dass eine so gigantische Geiselnahme überhaupt stattgefunden | |
habe, und witterte einen Versuch der Opposition, ihn im Vorlauf zu seiner | |
erhofften Wiederwahl 2015 zu diskreditieren. Hätte Jonathan den Ernst der | |
Lage sofort erkannt, wären die meisten Mädchen gerettet worden, als sie | |
noch nicht von Boko Haram über die Landesgrenzen verschleppt worden waren. | |
Erst nach zwei Wochen, als Journalisten in Chibok die wenigen Mädchen | |
aufspürten, die rechtzeitig fliehen konnten, und die Geschichte des | |
Überfalls rekonstruierten, gab Jonathan seine Leugnungshaltung auf. | |
Aber da war es schon zu spät. | |
Die Protestgruppe BringBackOurGirls (BBOG), die am zentralen Unity | |
Fountain der nigerianischen Hauptstadt Abuja Mahnwachen hielt und von der | |
Polizei immer wieder verjagt wurde, war für Jonathan eine Plage, aber für | |
seinen Widersacher Buhari ein willkommener Verbündeter. Nachdem Buhari 2015 | |
die Wahlen gewonnen und sein Amt als Präsident angetreten hatte, empfing er | |
die Protestierenden sogar an seinem Amtssitz. | |
Aber als BBOG ihre Aktionen nicht einstellte, weil die Mädchen ja immer | |
noch verschwunden waren, war Buhari zunehmend irritiert. Im Januar 2016 | |
erklärte er sich „verärgert“ und sagte einer Delegation der Protestgruppe, | |
er habe „keine glaubwürdigen Informationen“ über das Schicksal der Mädch… | |
Als BBOG wieder zu seiner Villa kam, ließ er sie von Polizisten fernhalten. | |
Als sie dann wieder eine Mahnwache am Unity Fountain abhielt, wurde sie von | |
100 Polizisten verjagt. | |
„Was ihr da macht, gerät außer Kontrolle“, sagte bei dieser Aktion | |
Polizeioffizier Abiodun Alamatu. Abujas Polizeisprecher Anjuguri Manzah | |
sprach von „wahllosen Aktionen in einer unordentlichen und zuweilen | |
aufsässigen Manier, die unangemessene Spannungen und Sorge unter | |
gesetzestreuen Bürgern verursachen und legitime Geschäftsaktivitäten | |
behindern“. Es war klar: Der Regierung Buhari waren Fragen nach dem | |
Schicksal der Chibok-Mädchen ab jetzt ungelegen. | |
Es gab seitdem eine einzige gute Nachricht. Nigerias Geheimdienst erreichte | |
vor einem guten halben Jahr mithilfe des Internationalen Roten Kreuzes | |
(IKRK) und der Schweizer Regierung den Austausch von 21 Chibok-Geiseln | |
gegen inhaftierte Boko-Haram-Kommandanten. Mehr nicht. Viele andere | |
Boko-Haram-Geiseln sind gerettet worden, aber nicht diese, die zum Symbol | |
des Boko-Haram-Kriegs geworden sind. | |
## Sieg über Boko Haram wird regelmäßig bekräftigt | |
Die bittere Wahrheit ist, dass für Buharis Krieg die Rettung der | |
Chibok-Mädchen nie zentral gewesen ist. Generalstabschef Tukur Buratai | |
erklärte Boko Haram zwar bereits im Februar 2016 für besiegt, und seitdem | |
wird das regelmäßig bekräftigt. Sieg über Boko Haram heißt in den Augen des | |
Militärs aber einfach, dass die Aufständischen an die Ränder der | |
nordostnigerianischen Provinz Borno gedrängt sind und den großen | |
Sambisa-Wald an der Grenze zu Kamerun nicht mehr beherrschen. Das ist die | |
militärische Definition der Niederlage von Boko Haram. | |
Die Entführten zu finden ist dagegen hoffnungslos. Grace Alele-Williams, | |
Nigerias erste Universitätsrektorin, drückte das am diesjährigen Jahrestag | |
am klarsten aus. „Die Geschichte der Chibok-Mädchen ist zu einem Spiel | |
geworden“, sagte sie. „Heute interessieren wir uns für andere Dinge.“ | |
27 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Fisayo Soyombo | |
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