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# taz.de -- Boko Haram in Nigeria: Das Kriegstrauma im Kopf
> Die brutale Islamistenarmee ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Was
> aus der Gruppe wird, ist offen. Aber ihre Opfer bleiben verschwunden.
Bild: Viele Opfer befinden sich in Maiduguri im Nordosten Nigerias – doch dor…
Abuja taz | Jummi presst verlegen ihre Fingerkuppen aneinander und versucht
zu lächeln. „Meine Gedanken können sich niemals ausruhen“, sagt sie.
Eigentlich wollte sie von ihrem Leben im Flüchtlingslager erzählen. Doch es
gelingt ihr nicht. Immer wieder schweift sie ab und denkt an ihre kleinen
Töchter Hauwa und Gloria sowie die Mutter. Wo ihr Vater ist und ob er noch
lebt, weiß sie nicht.
Die Familie kommt aus Gwoza an der kamerunischen Grenze. Bei der Flucht vor
der Terrormiliz Boko Haram wurde sie getrennt. Die 27-jährige Jummi, die
ihren Familiennamen lieber nicht nennen mag, schlug sich bis in Nigerias
Hauptstadt Abuja durch und lebt seit mehr als zwei Jahren im Lager New
Kuchigoro am Rande der Glitzerhauptstadt mit ihren großen Hotels,
Einkaufszentren und Luxusrestaurants. Jummi hat all das nie gesehen. Ihr
kleines Zimmer hat sie aus Kartons und Plastiktüten gebaut. Wenn es regnet,
wird der Boden zur Schlammwüste.
Eine Nachricht aus der Heimat kam vor ein paar Wochen. „Ich weiß, dass
meine Mutter und Gloria am Leben sind“, erzählt die junge Frau und atmet
tief durch. „Sie sind in Maiduguri, aber die Lage ist schlecht. Einmal
hatte meine Mutter 25 Tage lang kein Essen.“ Wo die heute vierjährige Hauwa
ist und wie es ihr geht, daran möchte sie lieber gar nicht denken. Als
Kämpfer der Miliz in ihr Dorf kamen, war Hauwa gerade bei der Großmutter.
Der gelang es nicht, das Kind bei der Flucht aus dem Haus zu holen. Seitdem
ist das kleine Mädchen verschwunden.
Über verschwundene Kinder wie Hauwa spricht im Stadtzentrum von Abuja
niemand. An Fahrt gewonnen hat stattdessen die Diskussion um die 218
entführten Mädchen von Chibok – seit April 2014 aus ihrer Schule in der
Provinz Borno gekidnappt. Zum ersten Mal hat Boko Haram indirekt
Verhandlungsbereitschaft angekündigt: Die Miliz will die Schülerinnen gegen
inhaftierte Mitglieder austauschen.
## Niemand weiß, wie stark manche Gegenden vermint sind
Idayat Hassan, Leiterin des Zentrums für Demokratie und Entwicklung (CDD),
hält einen Dialog für realistisch und notwendig. „Rein militärisch lässt
sich die Gruppe nicht besiegen.“ Zwar hat Nigerias Armee Erfolge verbuchen
können. Es sind längst nicht mehr, wie noch Anfang 2015, ganze Regionen von
Boko Haram besetzt. Auch kommt es nur noch selten zu Selbstmordanschlägen.
Doch in Borno sind weiterhin zahlreiche Straßen außerhalb Maiduguris nicht
zugänglich. Hilfsgüter außerhalb der Provinzhauptstadt zu verteilen oder
medizinische Versorgung zu leisten, gilt als massive und riskante
logistische Herausforderung. Niemand weiß zum Beispiel, wie stark die
Gegenden, aus denen Boko Haram vertrieben ist, vermint sind.
Wichtig ist Idayat Hassan: Längst nicht alle Kämpfer sind blutrünstige
Terroristen. „Einige wurden selbst entführt und gezwungen, für Boko Haram
zu kämpfen“, sagt Hassan.
Wie groß die islamistische Gruppe noch ist, lässt sich kaum beziffern. „Sie
ist jedenfalls nicht mehr in der Lage, einen großen Kampf zu führen“, sagt
Hussaini Abdu, Landesdirektor von Plan International. Er geht davon aus,
dass nur noch ein harter Kern übrig ist. Da die Armee Boko Haram stark
zurückgedrängt hat, ist es kaum noch möglich, Dörfer zu überfallen und so
neue Anhänger zu rekrutieren. Außerdem fehle der Gruppe Geld.
## Die Selbstzerfleischung von Boko Haram
Im Moment zerfleischt Boko Haram sich vor allem selbst. In der
Öffentlichkeit wurde Anfang August bekannt, dass der „Islamische Staat“
(IS) – ihm hatte sich Boko Haram 2015 angeschlossen – einen neuen Chef von
Boko Haram ernannt habe: Abu Musab al-Barnawi, etwa 30 Jahre alt und Sohn
des 2009 in Maiduguri von der Armee getöteten Gründers Mohammed Yusuf.
Yusufs Tod hatte Boko Haram damals in den Untergrund getrieben.
Al-Barnawi tauchte nach einem Massaker in Baga im Januar 2015 erstmals als
Sprecher der Gruppe auf. Nun soll er den Chef Abubakar Shekau abgelöst
haben und wird als „der Gute“ im Vergleich zu Shekau dargestellt – zynisc…
Propaganda, findet Hussaini: „Was soll am IS gut sein?“
Shekau kündigte indirekt an, dass seine Fraktion die richtige sei, um
Gespräche zu führen. Sie gilt als die stärkere. Am Wochenende hat auch
Nigerias Präsident Muhammadu Buhari Dialogbereitschaft signalisiert,
notfalls über einen Mediator. Der Druck, die Chibok-Mädchen zu befreien,
wird immer größer.
In New Kuchigoro hört auch Jummi manchmal davon. Aber nach Jahren im
Flüchtlingscamp weiß sie nicht mehr, woran sie noch glauben soll. Sie ist
nicht einmal sicher, ob ein Dialog auch ihre kleine Hauwa zurückbringen
würde. „Ich weiß es einfach nicht.“
3 Sep 2016
## AUTOREN
Katrin Gänsler
## TAGS
Boko Haram
Nigeria
Bring Back Our Girls
Schwerpunkt Islamistischer Terror
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