# taz.de -- Folgen des Brexit: Als ich mich schämte | |
> Nach dem Brexit wurde unser Autor deutscher Staatsbürger. Doch er ist | |
> immer noch Brite und seine Heimat lässt ihn nicht los. | |
Bild: Gefangen zwischen Weltläufigkeit und Nationalismus | |
Ich habe das Gefühl, seit dem 24. Juni vergangenen Jahres auf einer langen | |
emotionalen Reise gewesen zu sein. | |
An jenem Morgen nach dem Brexit-Referendum stand ich früh auf. Kaffee, | |
Internet, Fernsehen in meinem Berliner Wohnzimmer. Innerhalb von Minuten | |
war klar, dass das Unmögliche geschehen war. Und dass ich auf der | |
Verliererseite stand. | |
Um ehrlich zu sein, schien es für mich und die Freunde, die ich eingeladen | |
hatte, um eine, wie wir gehofft hatten, Siegesfrühstücks-Wahlparty zu | |
feiern, eine offensichtliche Erklärung für das Brexit-Votum zu geben: | |
uninformierte Menschen – ganz anders als wir selbst – hatten für die | |
Isolation gestimmt. In den darauffolgenden Tagen fühlte ich mich entfremdet | |
von einem Land, das ich nicht länger verstand. Ich war geschockt, als die | |
ersten Berichte von rassistischen Beleidigungen und Angriffen auf Ausländer | |
kamen. Ich habe die Petition für ein zweites Referendum unterstützt. Aber | |
im Grunde war ich mutlos. Es würde keinen Unterschied machen. Es war schon | |
passiert. Deshalb suchte ich nach etwas Positivem, auf das ich mich | |
konzentrieren konnte. | |
Spulen wir vor auf den 8. Januar diesen Jahres. Ein Sonntagabend, wieder | |
eine Party in meinem Berliner Wohnzimmer. Dieses Mal gab es eine Art Sieg | |
zu feiern – mich als neuen deutschen Staatsbürger. Nachdem ich meine | |
Urkunde am Schöneberger Rathaus abgeholt hatte, kamen Freunde mit | |
Spreewaldgurken und Nürnberger Würstchen. Wir spielten deutsche Musik, | |
tranken deutsches Bier und lachten über Fragen, die ich beim | |
Einbürgerungstest zu beantworten hatte. | |
## Die Wehrmacht als Beweis | |
Ein Teil des Sieges bestand darin, dass die Einbürgerung innerhalb von | |
sechs Monaten und relativ schmerzlos über die Bühne ging. Das einzige | |
wirkliche Problem war ein Formular über die Herkunft meiner deutschen Frau, | |
das ich ausfüllen sollte. Detaillierte Angaben über ihre Eltern und | |
Großeltern! „Hat Ihr Großvater in der Wehrmacht gekämpft?“ Hat er, aber … | |
für einen Unterschied macht das? Wir beschwerten uns im Rathaus. Die | |
Antwort: Der Wehrdienst des Großvaters sei „Beweis“ für die Nationalität | |
meiner Frau. Ich frage mich: Warum reicht nicht ihre Geburtsurkunde? | |
Der Sieg war aber auch ein persönlicher. Obwohl ich seit 1992, mit einigen | |
Unterbrechungen, in Deutschland gelebt habe, hat es so etwas Großes wie den | |
Brexit gebraucht, um mir einzugestehen, dass dieses Land auch mein Zuhause | |
ist. Meine Niedergeschlagenheit danach hat bewirkt, dass ich mein | |
Deutschsein annehmen, sogar feiern wollte. Ich bin nicht allein. Von meinen | |
fünf engsten britischen Freunden in Berlin haben vier nach dem Brexit die | |
deutsche Staatsangehörigkeit beantragt, zwei haben sie schon. Die Inhaberin | |
des Ladens Broken English in Kreuzberg hat Tipps für die Einbürgerung | |
ausgehängt. Sie sagt, fast alle ihre britischen Kunden hätten einen Antrag | |
gestellt. | |
Die Frage, die mir am häufigsten gestellt wird, ist, ob ich auch immer noch | |
Brite bin. Die Antwort ist ja, und während der erste Teil meiner Reise nach | |
letztem Juni darin bestand, Großbritannien zu entfliehen, fühle ich mich | |
jetzt, in der Sicherheit der deutschen Staatsbürgerschaft, wieder zu meiner | |
ursprünglichen Heimat hingezogen. | |
Meine Familie hat starke Verbindungen zu Großbritannien: Meine Frau und ich | |
haben uns dort verliebt, unsere Kinder haben dort Cousins und Cousinen, | |
Tanten und Onkel und einen Großvater. Doch während unser ältester, schon | |
erwachsener Sohn beide Staatsbürgerschaften hat, sind meine Frau und unsere | |
Tochter „nur“ deutsch. Wird meine Tochter wie ihr Bruder auf eine | |
britische Universität gehen können? Werden meine Frau und ich uns nach der | |
Pensionierung ein Ferienhaus in Cornwall kaufen können, wie wir es uns | |
erträumt haben? Dieselbe Energie, Deutscher zu werden, die der Brexit in | |
mir erweckt hat, trieb mich jetzt dazu, für meine Tochter die britische | |
Staatsbürgerschaft zu beantragen. | |
## Ein politisches Schachspiel | |
Das Gefühl von Ungewissheit, was die Zukunft meiner Familie in | |
Großbritannien angeht, gibt mir auch einen Einblick in die noch tiefere | |
Unsicherheit der Europäer, die dort leben. Einige kennen wir: ehemalige | |
Kollegen aus der Financial Times, Akademikerfreunde meiner Frau, den | |
polnischen Handwerker, der uns im Haus half, als wir in London lebten. | |
Premierministerin Theresa May weigert sich, Aufenthaltsrechte für sie alle | |
zu garantieren. | |
Es fühlt sich so falsch an, für ein politisches Schachspiel das Leben von | |
Millionen zu zerstören. Und offensichtlich ist es auch schlecht für das | |
Land: Großbritanniens geliebtes staatliches Gesundheitssystem, abhängig von | |
Fachkräften aus der EU, ist bereits in Alarmstimmung: Deutlich weniger | |
europäische Ärzte und Krankenschwestern bewerben sich auf freie Stellen, | |
immer mehr verlassen das Land, weil sie nicht mit der Unsicherheit leben | |
können. Auch britische Bauern sind in Sorge. Obst und Gemüse werden „auf | |
den Feldern verfaulen“, sagen sie – wenn die Regierung nicht schnellstens | |
den Hunderttausenden Erntehelfern, die jedes Jahr kommen, Jobgarantien | |
verschafft. | |
Erinnert sich noch jemand daran, dass die Brexit-Befürworter dem | |
staatlichen Gesundheitssystem mehr Geld und eine strahlende Zukunft | |
versprachen? Und dass die landwirtschaftlich geprägten Regionen Englands | |
den Brexit am stärksten stützen würden? | |
Es ist ziemlich verlockend, jetzt „Habe ich es euch nicht gleich gesagt?“ | |
von der Westminster Bridge zu rufen. Großbritanniens verunsicherten | |
Europäern hilft das aber nicht weiter. Ich rufe einen von ihnen an, um | |
seine Sicht zu verstehen. „Wolfgang“, der seinen echten Namen nicht nennen | |
will, ist ein deutscher Freund, der seit über einem Jahrzehnt in London | |
lebt. Seine Frau ist ebenfalls Europäerin, sie haben drei Kinder, die in | |
London geboren und „ganz normale britische Kids“ sind. | |
## Ein auf dem Rückzug | |
„Der Brexit war ein schwerer emotionaler Schlag“, sagt Wolfgang. Seine | |
starken Gefühle überraschen mich, schließlich kenne ich ihn als stillen | |
Intellektuellen. Vorerst plant er, zu bleiben, will sich aber nicht der | |
strapaziösen Prozedur des Antrags auf dauerhaften Aufenthalt unterziehen. | |
Dazu gehören unter anderem das Ausfüllen eines 85-seitigen Fragebogens, der | |
Nachweis lang zurückliegender, im Land verbrachter Zeiträume und | |
monatelanges Warten. Am Ende des Gesprächs sagt Wolfgang, die Briten | |
verstünden einfach nicht, wie sehr sie ihre europäischen Freunde und | |
Nachbarn verletzten! Ich sage ihm, dass ich mich für mein Land schäme. Dass | |
es sich komisch anfühlt, dass ich vergleichsweise leicht Deutscher werden | |
konnte, während Europäer in Großbritannien so schlecht behandelt werden. | |
Neun Monate nach dem Brexit sehe ich, wie sich mein Land auf sich selbst | |
zurückzieht und von den ausländischen Communities abwendet, die das Land | |
stärker gemacht haben. Ich sehe, dass das Land vor riesigen | |
Herausforderungen in den Austrittsverhandlungen steht – aber keine klare | |
Strategie dafür hat. Trotzdem: Im Vergleich zu meinem Siegesfrühstück, das | |
sich in eine Totenwache verwandelt hat, fühle ich weniger Feindseligkeit | |
denen gegenüber, die uns auf diesen Weg geführt haben. Ein Grund dafür mag | |
sein, dass der Brexit nicht alles ist, wie uns der Terroranschlag von | |
Westminster am 22. März in Erinnerung gerufen hat. Viele der Probleme, | |
denen wir uns gegenüber sehen, verlaufen quer zur Brexit-Kluft. | |
Leider scheint die Labour Party, die ich immer unterstützt habe, so weit | |
davon entfernt wie nie, Lösungen anbieten zu können. Mein 83-jähriger | |
Vater, der seit 55 Jahren Parteimitglied ist und zwischenzeitlich auch | |
Bürgermeister war, erzählte mir, er werde nach den bösartigen | |
Grabenkämpfen, die er bei der letzten Parteiversammlung erlebt habe, nie | |
wieder hingehen. | |
Ein anderer Grund ist, dass die politische Landschaft sich heute klarer | |
zeigt als noch im Juni. Der Populismus, der zum Brexit führte und Trump ins | |
Amt beförderte, hat sich als schädliche politische Kraft für Europa | |
erwiesen. Jetzt verstehen wir besser, warum es nötig ist, sich ernsthaft | |
mit den Motiven derer zu befassen, die sich zu einfachen Antworten | |
hingezogen fühlen – auch wenn es schwer ist, die richtigen Gegenstrategien | |
zu finden. | |
Zehntausende marschierten letzte Woche durch Londons Straßen, um für einen | |
Verbleib Großbritanniens in der EU zu werben. In Gedanken war ich bei | |
ihnen. Einer der Sprecher sagte: „Britannien kann es besser.“ So fühle ich | |
auch, auf der letzten Etappe meiner Brexit-Reise. Es kann – und sollte! – | |
besser werden für die Briten und alle, die mit ihnen zusammenleben. | |
Übersetzung: N.Apin, S. Mertins | |
1 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Hugh Williamson | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Brexit | |
Staatsbürgerschaft | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Referendum | |
Schwerpunkt Brexit | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Schwerpunkt Brexit | |
Großbritannien | |
Theresa May | |
Theresa May | |
Schwerpunkt Brexit | |
Großbritannien | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Großbritannien | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ein Laden in Berlin und der Brexit: „Ein kleiner Englandfimmel“ | |
Oh, my God: Der Laden „Broken English“ in Kreuzberg schloss Anfang des | |
Jahres, auch wegen des Brexits. Dann fand sich mit Antje Blank die | |
Retterin. | |
Ein roter Faden mit Brüchen und Lücken: Die Suche nach dem verlorenen Buch | |
Unser Autor dachte, er lebe für seine Arbeit. Doch seine Erinnerung sagt | |
etwas anderes. Vieles, was mal wichtig war, spielt nun keine Rolle mehr. | |
Pläne für den Brexit: EU-Ausländer schneller abschieben | |
Die Brexit-Verhandlungen nehmen Form an. Theresa May schickt ein Dokument | |
nach Brüssel, in dem sie Details zur Zukunft der EU-Ausländer in | |
Großbritannien nennt. | |
Großbritannien vor der Parlamentswahl: Bisschen links, bisschen rechts | |
Mit ihrem neuen Wahlprogramm will Premier May die Opposition schwächen. | |
Indem sie deren Kernforderungen aufsaugt. | |
Kommentar Neuwahl in Großbritannien: Mays Blankoscheck | |
Das Parlament gibt grünes Licht für die Neuwahl. Premier May hat damit ihr | |
Ziel erreicht: Die Opposition ausschalten und durchregieren. | |
Kommentar Neuwahl in Großbritannien: Alles neu macht die May | |
Großbritannien könnte ein bisschen Ruhe gut vertragen. Trotzdem ist Theresa | |
Mays Entscheidung für eine Neuwahl eine gute. | |
Großbritannien nach dem Brexit: Neuwahl am 8. Juni | |
Die britische Premierministerin Theresa May kündigt die Auflösung des | |
Parlaments an. Die Neuwahl soll in knapp zwei Monaten stattfinden. | |
Brexit-Streit um Gibraltar: Kriegerische Töne aus London | |
Die EU räumt Spanien ein Veto bei Entscheidungen über Gibraltar ein. In | |
Großbritannien ist man darüber erbost, Konservative können sich einen | |
Militäreinsatz vorstellen. | |
Auswirkungen des Brexit: Ein schlechtes Geschäft | |
Bislang konnte der Finanzplatz London ganz Europa dominieren. Das britische | |
Oberhaus befürchtet, dass nun Banken abwandern. | |
Britischer Brexit-Brief: Der Ton wird rauer | |
Großbritannien hat den Brexit-Brief abgegeben. Nun wittern einige | |
EU-Interpreten des Austrittsschreibens eine versteckte Drohung. | |
Englands Ostküste in Zeiten des Brexit: Fisch macht nicht mehr satt | |
Grimsby hatte einmal 650 Fischkutter. Heute ist der Hafen fast leer. Der | |
Brexit wird nicht helfen, das zu ändern, glaubt Fischhändler Boyers. | |
Brexit-Verfahren beginnt: Wie bei einer echten Scheidung | |
Nun geht der Brexit richtg los. Bürgerrechte und Binnenmarkt – die | |
Verhandlungen Großbritanniens mit der EU bieten reichlich Konfliktstoff. | |
Fortgang des Brexit: Jetzt wird's ernst | |
Der Weg für die Austrittsverhandlungen ist frei. Die britische | |
Premierministerin bestätigte das im Londoner Parlament. Der | |
EU-Ratspräsident zeigte sich enttäuscht. |