Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Auswirkungen des Brexit: Ein schlechtes Geschäft
> Bislang konnte der Finanzplatz London ganz Europa dominieren. Das
> britische Oberhaus befürchtet, dass nun Banken abwandern.
Bild: Brexit-Gegnerin in London
Die britischen Lords sind besorgt. Was wird aus den heimischen Banken, wenn
der Brexit kommt? Bisher ist London der wichtigste Finanzplatz der Welt und
sogar größer als New York. Doch mit diesem Geschäftsmodell könnte es vorbei
sein, wenn die Briten die EU verlassen. Wie hoch sind also die Kosten des
Brexits? Das wollte das britische Oberhaus genau wissen und hat daher die
wichtigsten Banker, Börsianer und Ökonomen des Königreichs befragt. Heraus
kam: Die Briten werden Milliarden verlieren. Der Brexit ist ein schlechtes
Geschäft – und extrem teuer.
Wie die Lords akribisch festhalten, sind die Finanzdienstleistungen die
größte „Industrie“, die Großbritannien besitzt. Sie tragen etwa 7 Prozent
zur Wirtschaftsleistung bei, werfen 12 Prozent der Einkommens- und 15
Prozent der Unternehmenssteuern ab. 2,2 Millionen Menschen arbeiten in den
Banken und Versicherungen oder sind indirekt als Unternehmensberater,
Wirtschaftsprüfer und Juristen mit der Finanzbranche verwoben.
Allein die ausländischen Banken zahlen jährlich etwa 17 Milliarden Pfund an
Steuern. „Diese Summe ist weit größer als die gesamten britischen
Nettozahlungen an die EU“, merkte Anthony Browne spitz an, als er von den
Lords befragt wurde. Browne ist Chef der britischen Bankenvereinigung.
Offiziell sind die Finanzdienstleistungen nur ein Thema unter vielen, die
bei den EU-Austrittsverhandlungen eine Rolle spielen. Denn es werden ja
auch Autos, Pharmazeutika oder Lebensmittel zwischen Europa und
Großbritannien ausgetauscht. Angestrebt wird daher ein „umfassendes
Freihandelsabkommen“, wie EU-Ratspräsident Donald Tusk am Freitag nach
einem EU-Gipfel in Malta mitteilte.
## Das Passportsystem
„Freihandelsabkommen“ klingt erst einmal gut, doch es würde den britischen
Banken nicht helfen. Der Standort London wäre trotzdem gefährdet, wie die
Lords in ihrem Bericht festhalten: „Entscheidend sind die Finanzpassrechte,
wie sie jetzt in der EU gelten.“
Dieses Passportsystem ist nämlich weltweit einzigartig und extrem
großzügig. Ist eine Bank in einem EU-Land zugelassen, darf sie ihre
Finanzdienstleistungen auch in allen anderen Mitgliedsstaaten anbieten –
ohne weitere Kontrollen oder Zusatzlizenzen. Diese Regelung gilt sogar für
Nicht-EU-Banken. Ein Beispiel: Da die amerikanische Großbank JP Morgan
Filialen in London hat, kann sie ihr Investmentbanking auch im restlichen
Europa anbieten.
Nur durch dieses Passportsystem konnte London zu einem gigantischen
Finanzplatz werden, der ganz Europa dominiert und sämtliche
Spekulationsgeschäfte mit Derivaten abwickelt. Die restlichen EU-Länder
spielen bei diesen lukrativen Finanzwetten bisher keine Rolle, wie die
Statistiken eindrucksvoll belegen.
Um ein paar Zahlen herauszugreifen, die die Lords erhoben haben: Pro Tag
werden in Großbritannien Zinsderivate mit einem nominalen Wert von 1,35
Billionen Dollar gehandelt. In den USA sind es „nur“ 0,63 Billionen.
Frankreich liegt weit abgeschlagen mit 0,2 Billionen zurück – und in
Deutschland sind es ganze 0,1 Billionen.
Bei Derivaten auf Währungen ist es nicht anders: Wetten im Wert von 1,69
Billionen Dollar werden pro Tag in London umgeschlagen, in den USA sind es
0,64 Billionen. Die EU-Länder tauchen in der Statistik gar nicht erst auf,
so unbedeutend sind sie.
## Das Euro-Geschäft
Was die Euro-Staaten stets besonders geärgert hat: Selbst Euro-Papiere
werden nicht etwa in der Eurozone gehandelt – sondern ebenfalls in England.
Über London laufen derzeit 45 Prozent der Devisenderivate und 70 Prozent
der Zinsderivate, die auf Euro lauten. Täglich werden Papiere im Wert von
etwa einer Billion Euro in der britischen Hauptstadt umgeschlagen.
Dieses Euro-Geschäft wollen sich die Europäer jetzt angeln. Der Brexit wird
als einzigartige Chance gesehen, die Übermacht der britischen Banken zu
zertrümmern. Besorgt zitieren die Lords den französischen Präsidenten:
François Hollande forderte sofort nach dem Brexit-Votum, den Briten das
Geschäft mit den Euro-Derivaten zu entziehen. Dies könnte auch „als Lektion
für jene dienen, die ein Ende Europas anstreben“.
Die britische Wirtschaft kann jedoch auf die boomenden
Spekulationsgeschäfte kaum verzichten: Nur dem „Export“ von
Finanzdienstleistungen ist es zu verdanken, dass Großbritannien seine
Importe finanzieren kann – ob es nun Maschinen oder Fernreisen sind. Ohne
die Finanzgeschäfte würde in der Leistungsbilanz ein Loch von 6,9 Prozent
klaffen. Die Briten leben also weit über ihre Verhältnisse, was sie dadurch
finanzieren, dass sie Finanzkapital aus dem Ausland ansaugen.
Die britische Elite weiß, dass die City of London ohne das Passportsystem
weitgehend schließen müsste. Also wird Zweckoptimismus verbreitet.
Verzweifelt sucht man nach Argumenten, warum es auch im Interesse der
Europäer sei, das lukrative Spekulationsgeschäft weiterhin den britischen
Banken zu überlassen.
## Attraktives „Netting“
Die Lords haben vor allem zwei Argumente ausgemacht, warum die City of
London für die Europäer angeblich unersetzlich sei. Die Stichworte lauten:
„Finanzielles Ökosystem“ und „Markttiefe“.
Mit „Ökosystem“ ist gemeint, dass nur London jederzeit und auf Abruf jene
Spezialisten bieten kann, die eine Investmentbank benötigt. In anderen
Städten leben schlicht nicht genug Finanzmathematiker, Bankeninformatiker
oder international ausgerichtete Juristen. Damit haben die Briten
tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal, wie auch Deutsche glauben. Holger
Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank und hat 17 Jahre in
Großbritannien gelebt: „Beim Personal ist London nicht zu ersetzen.“
Das zweite Argument „Markttiefe“ wiederum meint, dass in London so viele
Derivate gehandelt werden, dass sich viele Spekulationsgeschäfte
gegenseitig aufheben – und deswegen miteinander verrechnet werden können.
Auf Neudeutsch heißt dies „Netting“. Dieses Netting ist für
Investmentbanken ungemein attraktiv, weil damit das Risiko „komprimiert“
wird und aus der Bilanz verschwindet – sodass weniger Eigenkapital nötig
ist.
Durch schlichtes Netting werden aus vielen Billionen am Ende nur wenige
Milliarden, wie der Londoner Börsenchef Xavier Rolet den Lords vorgerechnet
hat: Im Jahr 2015 wurden Zinsderivate in 17 verschiedenen Währungen und im
Wert von 555 Billionen Dollar auf 328 Billionen Dollar zusammengestaucht,
sodass 110 Billionen an Risiko verschwanden. Was den Banken wiederum 25
Milliarden an Eigenkapital sparte.
## Weniger Freizügigkeit
Auch Schmieding glaubt, dass das Netting zurückgehen dürfte, wenn London
nicht mehr der wichtigste Finanzplatz Europas ist. „Dieses Argument ist
technisch richtig.“ Dann folgt die Einschränkung: „Aber es wird politisch
entschieden. Die Briten werden trotzdem zu einem erheblichen Maße aus dem
gemeinsamen Finanzmarkt rausfliegen.“
Diese Ansicht teilt Isabel Schnabel, eine der Fünf Weisen und Professorin
in Bonn: „Die Engländer überschätzen ihre Verhandlungsmacht. Es ist zwar
unwahrscheinlich, dass der Finanzplatz London vollkommen entwertet wird.
Aber wenn die Briten das Passportsystem behalten wollen, werden sie dafür
bei der Freizügigkeit zahlen müssen.“
Zudem ergibt sich ein fundamentales Problem: Wer soll die Bankenregulierung
übernehmen, wenn die Briten nicht mehr in der EU sind, aber Euro-Derivate
handeln wollen? DIW-Chef Marcel Fratzscher meint: „Die Bankenaufsicht kann
nicht funktionieren, wenn europäisches Recht gegen britisches Recht stößt.“
Bleibt also nur, dass die britischen Banken ihr Euro-Geschäft in die
Eurozone verlagern und dort von der EZB kontrolliert werden.
Allerdings ist unwahrscheinlich, dass hier ein so großer Finanzplatz wie
London entsteht. Stattdessen dürften sich die Banken in verschiedenen
Städten niederlassen. Paris, Frankfurt, Luxemburg, Amsterdam und Dublin
konkurrieren bereits um die britischen Banker.
Die Lords haben schon rechnen lassen, was es die Briten kosten würde, wenn
das Europageschäft nach Europa umzieht: 18 bis 20 Milliarden Pfund pro
Jahr.
2 Apr 2017
## AUTOREN
Ulrike Herrmann
## TAGS
Schwerpunkt Brexit
Europäische Union
EU-Finanzpolitik
Bankenunion
Großbritannien
Großbritannien
Schwerpunkt Brexit
Schwerpunkt Brexit
Großbritannien
Schwerpunkt Brexit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Notenbank in Großbritannien: Briten heben Zinsen an
Die Bank of England setzt den Leitzins hoch – zum ersten Mal seit zehn
Jahren. Das ist ökonomisch riskant, weil es die Wirtschaft abwürgen könnte.
Brexit-Streit um Gibraltar: Kriegerische Töne aus London
Die EU räumt Spanien ein Veto bei Entscheidungen über Gibraltar ein. In
Großbritannien ist man darüber erbost, Konservative können sich einen
Militäreinsatz vorstellen.
Folgen des Brexit: Als ich mich schämte
Nach dem Brexit wurde unser Autor deutscher Staatsbürger. Doch er ist immer
noch Brite und seine Heimat lässt ihn nicht los.
Britischer Brexit-Brief: Der Ton wird rauer
Großbritannien hat den Brexit-Brief abgegeben. Nun wittern einige
EU-Interpreten des Austrittsschreibens eine versteckte Drohung.
Englands Ostküste in Zeiten des Brexit: Fisch macht nicht mehr satt
Grimsby hatte einmal 650 Fischkutter. Heute ist der Hafen fast leer. Der
Brexit wird nicht helfen, das zu ändern, glaubt Fischhändler Boyers.
Brexit-Verfahren beginnt: Wie bei einer echten Scheidung
Nun geht der Brexit richtg los. Bürgerrechte und Binnenmarkt – die
Verhandlungen Großbritanniens mit der EU bieten reichlich Konfliktstoff.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.