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# taz.de -- Ein roter Faden mit Brüchen und Lücken: Die Suche nach dem verlor…
> Unser Autor dachte, er lebe für seine Arbeit. Doch seine Erinnerung sagt
> etwas anderes. Vieles, was mal wichtig war, spielt nun keine Rolle mehr.
Bild: Auf der Suche nach der Vergangenheit
Wie wichtig ist Arbeit für ein erfülltes Leben? Vor Kurzem, mit 53 Jahren,
bekam ich einen Schock, der mich auf den Gedanken brachte: Vielleicht wird
die Rolle von Arbeit für das Selbstverständnis einer Persönlichkeit
überschätzt?
Ich bin ein Aktivist, der erst Journalist wurde und dann wieder zum
Aktivisten wurde. Ich arbeitete für Nichtregierungsorganisationen im
Arbeitsrecht, dann für Mainstream-Medien und jetzt für eine
Menschenrechtsorganisation. Wie viele Aktivisten, Journalisten und andere,
habe ich Arbeit nie als bloße 9-bis-17-Uhr-Tätigkeit gesehen, sondern als
Quelle der Selbstverwirklichung und als eine Art, meinem Leben größere
Bedeutung zu verleihen.
Je älter man wird, desto wichtiger werden natürlich andere Dinge. Ich bin
jetzt in einer Lebensphase, in der mir meine Familie, über sämtliche
Generationen hinweg, sehr wichtig ist. Der Stellenwert von Arbeit
relativiert sich in dieser Situation, doch trotzdem bleibt sie ein
wichtiger Teil des Lebens.
Ich habe gemerkt, dass ich lange einen nostalgischen Blick darauf hatte,
wie sich mein Arbeitsleben entwickelte und wie es über die Jahre meinen
Charakter formte. In Wahrheit war meine Karriere eine Abfolge verschiedener
Jobs, die einer nach dem anderen genau zur richtigen Zeit zu kommen
schienen und in denen ich das Glück hatte, Gewinner in einem mehr oder
weniger zufälligen Auswahlprozess zu sein.
## Auf der Suche nach Themen
Damals allerdings war meine Selbstwahrnehmung eine andere. Wenn ich
zurückschaue, sehe ich einen roten Faden, der sich durch mein Arbeitsleben
zieht und eine Station mit der nächsten verbindet. Was ich als meinen
Aktivistengeist begreife – die Idee, die Welt irgendwie zu einem besseren
Ort machen zu wollen –, macht diesen roten Faden aus, den ich in meiner
nostalgischen Denkart nie verblassen sah. Sogar dann nicht, als ich elf
Jahre lang für die Financial Times arbeitete, wo ich viel gelernt habe,
aber mich immer wie ein Außenseiter fühlte – immer auf der Suche nach
Themen, über die zu schreiben mir wirklich wichtig war.
Wie das im modernen Leben oft der Fall ist, waren es ein Bruch in der
Routine und ein Ortswechsel, der diese romantische Sicht auf meine eigene
Arbeitsbiografie gehörig durcheinanderbrachte.
Vor Kurzem reiste ich beruflich nach Japan. Vor 25 Jahren war ich häufig
dort, um Gewerkschaftsaktivisten zu interviewen und an Arbeitskämpfen
teilzunehmen. Ich schrieb sogar ein Buch über das Land oder zumindest über
einen skurrilen Seitenaspekt – ob sich die japanischen Gewerkschaften um
die Ausbeutung von Arbeitern kümmerten, die in anderen asiatischen Ländern
für japanische multinationalen Unternehmen arbeiteten (die Antwort nach 332
Seiten: Es interessierte sie nicht wirklich ).
Zuletzt war ich 1998 dort. Damals machte ich anscheinend eine neuntägige
Buchvorstellungsreise durch drei Städte; zum Erscheinen der japanischen
Übersetzung las ich in Tokio, Kioto und Osaka.
„Anscheinend“ schreibe ich deshalb, weil ich diese Reise komplett vergessen
habe, genau wie ich mich auch an die vorherigen Recherchereisen fast gar
nicht mehr erinnere. Dass es diese Lesereise gab, weiß ich nur deshalb,
weil ich auf meinem Dachboden ein vergilbtes Stück Papier mit meinem
Reiseplan drauf gefunden habe. Ich fand dort auch alte Fotos von einem viel
jüngeren Ich zu japanischem Publikum sprechend, das offenbar aufmerksam
zuhörte.
## War ich das wirklich?
Wie kann das sein? Wenn es einen roten Faden gibt, der Schlüsselmomente in
meinem Leben miteinander verbindet, dann sollte dieser Faden doch auch das
einzige Buch umschließen, das ich je geschrieben habe? Doch tatsächlich
fühlte ich mich, als ich mich erneut auf den Weg nach Japan machte,
vollkommen abgeschnitten von dieser früheren Lebensphase, als ob sie jemand
anderem passiert sei. Sogar wenn ich mein Buch noch einmal lese,
verschwindet diese Barriere nicht. Habe wirklich ich das alles geschrieben?
Ich war verstört, beschloss aber, den Gedächtnisverlust als Herausforderung
zu nehmen. Ich wollte versuchen, während meines Aufenthalts in Japan wieder
mit meinem früheren Leben in Verbindung zu kommen, den Wert
wiederherzustellen, dem ich meiner Arbeitsbiografie immer eingeräumt hatte.
Mein erster Wiederanknüpfungsversuch findet in Asakusa statt, dem beliebten
Tokioter Tempelbezirk, den ich, meinen vergilbenden Notizen zufolge, auf
meiner ersten Reise 1988 besuchte. Mein Hotel ist in der Nähe, und ich
spaziere umher, besuche den Haupttempel, absolviere die Touristenrituale
und bete zu den Göttern – aber ich habe nicht die leiseste Erinnerung.
Nichts.
## Beim Gewerkschafsbund Rengo
Später habe ich einen Termin beim Gewerkschaftsbund Rengo, dem japanischen
DGB. Vielleicht könnte das ergiebiger werden, da sie dort vermutlich
Interesse an meinen Tätigkeiten in meinem früheren Leben haben. Außerdem
spielt Rengo eine große, wenn auch nicht unkritische Rolle in meinem Buch.
Innenstadt von Tokio, großes Bürohaus, siebter Stock, zwei freundliche
Außenbeziehungsbeauftragte. Ich erkläre ihnen, warum ich hier bin, spreche
ein wenig über das Buch.
Sie sind höflich, aber verwundert. Sie wundern sich darüber, dass dieser
Fremde, der kein Japanisch spricht, sich offensichtlich mit den Details der
japanischen Arbeitergeschichte auskennt. Etwas zögerlich nehmen sie die
japanische Ausgabe des Buchs entgegen. Wir suchen schon bald nach anderen
Gesprächsthemen. Auch hier: keine Wiederannäherung an vergessene Zeiten.
Das ist entmutigend, aber auch befreiend. Endlich kann ich mich von der
Idee verabschieden, dass es für mich irgendwie wichtig war und ist, der
Autor dieses Buchs zu sein. Endlich kann ich diese Arbeitsepisode als Teil
einer ganz normalen Karriere begreifen.
Und dann gibt es doch noch einen Hoffnungsschimmer: An meinem letzten Abend
treffe ich mich mit Yamazaki Seiichi. Vor 25 Jahren war er mein Übersetzer
und bester japanischer Freund. Wenn Arbeit also weniger wichtig wird, wenn
die Jahre vorbeiziehen – können dann wenigstens Freundschaften den Zeittest
bestehen?
Wir machen uns auf den Weg durch Tokio zu seinem Haus am anderen Ende der
Stadt. Abwechselnd ziehen und tragen wir meinen großen Koffer. Es ist
Rushhour. Als uns die U-Bahn gerade vor der Nase wegfährt, erzählt er mir,
er sei nun 67, pensioniert von seiner Tätigkeit in der Gesundheitsabteilung
der Tokioter Stadtverwaltung. Er nimmt seine Kappe ab, um sein ergrauendes
Haar zu zeigen. Wir besteigen einen Zug. Wie geht es deinen Kindern? Was
machen sie jetzt? Immer mehr Menschen quetschen sich in den Waggon. Bist du
immer noch gewerkschaftlich aktiv?
## Eine große Flasche Sake
Wir kommen in seinem holzgetäfelten Vororthaus an. Seine Frau Michika heißt
mich willkommen, sie ist schon über dem Pensionsalter, arbeitet aber noch
immer als Sozialarbeiterin. Wir setzen uns zum Essen, die Konversation
wandert angenehm durch die Höhen und Tiefen des mittleren Lebensalters und
des Älterwerdens.
Dann holt Yamazaki eine mächtige Flasche Sake hervor, und etwas Schönes
passiert: Wir sind wieder auf einer Wellenlänge. Freudig erinnert er sich
exakt an unser Kennenlernen (es war etwas früher als in seiner Erinnerung).
Die Protestkampagnen, die wir zusammen erlebt hatten, „waren für mich der
Beginn einer neuen Lebensphase“, sagt er. Für mich war es genauso, merke
ich plötzlich wieder.
Ich zeige ihm alte Fotos, die ich mitgebracht habe. Er kramt ein
verstaubtes Fotoalbum hervor mit Bildern von einer Wanderung, die ich in
den frühen 1990ern mit seiner Familie unternommen hatte (was ich vergessen
habe). Wir erinnern uns an gemeinsame Freunde und Bekannte und wenden uns
meinem Buch zu. Ich erzähle, dass ich mein einziges japanisches Exemplar
Rengo geschenkt habe. Da geht er ins Arbeitszimmer und gibt mir eine neue
Ausgabe. „Ich habe noch einige“, sagt er. „Wieso?“, frage ich. „Nun, …
habe es übersetzt“, sagt er. Zu meiner Schande erinnere ich mich nicht.
Jetzt könnte es komisch werden, aber glücklicherweise kommt es anders. Als
ich auf das dicke Buch schaue und dann auf Yamazaki, fühle ich mich endlich
wieder verbunden. Die Gefühle, die in mir frei werden bei der Erinnerung
daran, was Yamazaki in einem früheren Leben für mich getan hat – diese
Gefühle überbrücken einen Teil der Lücke, die sich zwischen mir und meinem
längst vergessenen Arbeitsleben aufgetan hat.
Aus dem Englischen: Nina Apin
28 Aug 2017
## AUTOREN
Hugh Williamson
## TAGS
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Schwerpunkt Türkei
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