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# taz.de -- Antifa verteidigt Göttingen: Kampf um die linke Hochburg
> Am Samstag verschlug es einige Neonazis nach Göttingen. Seit zwei Jahren
> marschieren sie dort – wie schon in den 1990ern. Und wieder wehrt sich
> eine starke Antifa
Bild: Zu Militanz bereit: Göttinger AntifaschistInnen machten auch am Samstag …
Meinhart Ramaswamy sitzt am Freitagabend in seiner Küche und zeigt durch
das große Fenster hinaus auf eine kleine Nebenstraße eines gutbürgerlichen
Stadtteils Göttingens. Zwei Tage zuvor waren hier wieder einmal Mitglieder
des rechtsextremen „Freundeskreises Thüringen/Niedersachsen“ vor seinem
Haus aufgetaucht und hatten ihn, wie er sagt, „freundlich mit Megafon
gegrüßt“. Er habe sich gerade einen Kaffee gemacht, als das Auto im
Schritttempo zwei Mal an seinem Haus vorbeifuhr.
Schon mehrmals versuchten die Rechten, den Kreistagsabgeordneten und seine
Familie zu Hause zu bedrohen. „Natürlich soll das einschüchtern und
verunsichern“, sagt der 64-Jährige mit markantem dunklen Vollbart und leger
geknöpftem strahlend weißem Hemd. Auch in Äußerungen auf rechten
Kundgebungen oder in Videobotschaften wird Ramaswamy regelmäßig, mal
direkt, mal indirekt, bedroht. „Angst macht einem dieser Haufen nicht
direkt, aber man wird natürlich aufmerksamer“, sagt er und fühlt sich
insbesondere von der Polizei im Stich gelassen.
Nachdem die Rechtsextremen das erste Mal vor seinem Haus aufgetaucht waren,
bekam er etliche Briefe und Mails, die sich mit ihm solidarisch zeigten.
„Viele verstanden das als Angriff auf uns alle“, erzählt der
Piraten-Politiker. Denn seit bald zwei Jahren schon tauchen Rechtsextreme
wieder offensiv in der linken Unistadt auf. Vermehrt finden Kundgebungen
statt, LokalpolitikerInnen wie Ramaswamy werden bedroht, linke
AktivistInnen werden angegriffen.
Am Samstagmittag stehen ein dutzend Polizeiwagen am Göttinger Bahnhof. Für
15 Uhr hat der rechtsextreme „Freundeskreis“ wieder mal eine Demo
angekündigt. Der Protest dagegen beginnt schon Stunden vorher. Fünf
Gegenkundgebungen und Demonstrationen sind angemeldet.
Auch Ramaswamy protestiert wieder mit. Gegen halb eins schlendert er mit
seinem Fahrrad bei der größten Demonstration vorneweg. Die autonome
Antifaschistische Linke International (ALI) hat zu einem Marsch durch die
Stadt aufgerufen, rund 1.000 Menschen sind gekommen – vorne der schwarze
Block, hinten Väter und Mütter mit Kinderwagen. „Ja, das ist sehr gut, dass
hier schon sehr viele sind“, sagt Ramaswamy, während hinter ihm ein paar
Bengalos im schwarzen Block gezündet werden.
Nachdem der „Freundeskreis“ anfangs noch unter dem Deckmantel „besorgter
BürgerInnen“ Veranstaltungen in Göttingen und dem Umland abhielt, wurde
relativ schnell deutlich, dass es sich bei den Mitgliedern großteils um
lokale Größen der rechtsextremen Szene handelt: So trat unter anderem auch
Thorsten Heise bei Veranstaltungen auf. Heise soll Kontakte zum Umfeld des
Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) haben und ist kürzlich zum
stellvertretenden Bundesvorsitzenden der NPD gewählt worden.
Viele in Göttingen würden nun das Problem deutlicher wahrnehmen und seien
besorgt, sagt Ramaswamy. „Göttingen ist weltoffen, aber die Stadt und ihre
Bewohner müssen das auch zeigen.“ Denn alle, die wie Ramaswamy aktiv im
Kampf gegen Rechts sind, wissen – die Jüngeren zumindest aus Erzählungen –
wie es Anfang der 1990er in der Stadt zuging. Auch damals war Göttingen
schon eine linke Hochburg.
Bernd Langer, der über zwei Jahrzehnte hinweg in der linken autonomen Szene
aktiv war, weiß noch aus eigener Erfahrung, wie an Wochenenden regelmäßig
Neonazis in die Stadt kamen und AusländerInnen und Linke verprügeln
wollten. „Das wurde zunächst von vielen als Streit zwischen Jugendbanden
dargestellt“, erklärt Langer, der einer der Mitbegründer der Autonomen
Antifa M war.
Die „M“ schaffte es sowohl speziell in Südniedersachsen als auch
deutschlandweit, das Problem des Neofaschismus medienwirksam wieder auf die
Tagesordnung zu bringen. Trotz Ermittlungen wegen Bildung einer
terroristischen Vereinigung – das Verfahren wurde eingestellt – und dem
martialischen Auftreten der Mitglieder baute die „M“ Bündnisse auf, die bis
ins kirchliche und sozialdemokratische Lager reinragten. „Auch durch
persönliche Kontakte entstand dieses breite Bündnis“, erklärt Langer.
Damals kamen die Neonazis aus dem Umfeld von Karl Polacek. Polacek war
seinerzeit Vorsitzender der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP),
die 1995 verboten wurde, und scharrte rechte Skinheads auf seinem Anwesen
im Göttinger Umland, das als Schulungszentrum galt, um sich. „Natürlich war
dann auch der Tod von Conny Wessmann und Alexander Selchow für das
linksliberale Bürgertum in Göttingen ein großes Thema“, sagt Langer.
Wessmann war, nachdem sie nachts von Neonazis attackiert wurde, von der
Polizei verfolgt worden. Dem Polizeifunk zufolge wollten die Beamten Linke
„plattmachen“. Wessmann war dabei von einem Auto überfahren worden. Selchow
wurde von zwei rechten Skinheads erstochen. Mit den Vorfällen war die
Empörung über das Erstarken der Rechten breiter geworden. Insbesondere
militante Aktionen der autonomen Gruppen sorgten danach dafür, dass die
rechten Angriffe in Göttingen immer weniger wurden und auch das
linksliberale Bürgertum erkannte die Arbeit der Antifa-Gruppen an. 2009
bedankte sich der Stadtrat ganz offiziell per Resolution bei der Antifa für
ihren Kampf gegen Rechts.
Heute versucht der braune Mob wieder in der von ihr so verhassten
Universitätsstadt Fuß zu fassen. In den letzten Monaten wurde die
Veranstaltungsdichte des „Freundeskreises“ deutlich erhöht. Sowohl in
kleineren Städten wie Duderstadt oder Adelebsen, vor allem aber in
Göttingen kam es beinahe wöchentlich zu Kundgebungen.
Im vergangenen Herbst attackierten Rechtsextremisten im Anschluss an eine
Kundgebung in Göttingen Mitglieder der linken Szene mit Messern und
Baseballschlägern. Zwei von ihnen mussten mit Krankenwagen abtransportiert
werden. „Danach standen sie bei mir das erste Mal vor dem Haus und
versuchten, mich zu bedrohen“, sagt Ramaswamy.
Als vor zwei Wochen in der Innenstadt eine Kundgebung zugunsten
Geflüchteter stattfand, tauchte ein halbes Dutzend Rechter dort auf.
Vorigen Monat wurden bei Mitgliedern des „Freundeskreises“ Wohnungen
durchsucht, weil sie im Verdacht stehen, eine bewaffnete Gruppe gebildet zu
haben. Neben Schlag- und Stichwerkzeugen wurden dabei auch Schusswaffen
sichergestellt.
Die militante Antwort der autonomen Szene auf die Bedrohungen, auf die
körperlichen Angriffe und die Bewaffnung der Neonazis ist, ähnlich wie in
den 1990ern, deutlich. In den vergangenen Monaten brannten regelmäßig Autos
von Menschen aus dem Umfeld des Freundeskreises, auch Hausbesuche mit
hinterlassener Botschaft fanden statt. Eine weitgehende Empörung über die
militante Gegenwehr der AntifaschistInnen, wie sie andernorts üblich wäre,
blieb jedoch aus – in der linksliberalen Unistadt gibt es, trotz mahnender
Stimmen über manche Grenzüberschreitung, weiterhin die alten Bündnisse der
linken Szene mit kirchlichen und bürgerlichen Institutionen.
Dass es am Samstag in Göttingen nur zu einer Kundgebung der Rechten vor dem
Bahnhof und nicht, wie vom „Freundeskreis“ gewünscht, zu einer
Demonstration durch die Innenstadt kam, lag ebenfalls daran, dass klar war,
dass die radikale Linke in Göttingen einen Demonstrationszug durch die
Stadt nicht hinnehmen würde. Die Stadtverwaltung untersagte die
Demonstration, da „die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet“ sei,
und gestattete nur die Kundgebung am Bahnhof.
Als die antifaschistische Demo schließlich dort ankommt, laufen schon
Protestaktionen von anderen Gruppen. Hier und da wird versucht, den
Kundgebungsort zu besetzen, aber mehrere Hundertschaften der Polizei stehen
dazwischen.
Rund 100 Rechte sind es dann am Nachmittag, die pöbelnde Gesten zeigen und
ein paar Fahnen wedeln. „Schon in den letzten Monaten wurde die Zahl der
Teilnehmenden bei den rechten Kundgebungen kontinuierlich kleiner“, sagt
Ramaswamy. Viele der Rechten, die da in dem kleinen abgesperrten Quadrat
stehen, sind aus anderen Regionen angereist. Auch Bernd Langer sagt:
„Politisch ist der sogenannte Freundeskreis mittlerweile völlig
unbedeutend.“
Für linke AktivistInnen wie Ramaswamy jedoch sind die Rechten, auch wenn
sie nicht aus der Unistadt kommen, weiter eine konkrete Bedrohung. Solange
wird es neben friedlichem Protest wohl auch die militante Gegenwehr der
Antifa geben.
Korrektur: In einer früheren Version des Textes hieß es, Conny Wessmann sei
von einem Polizeiwagen überfahren worden. Wir haben den Fehler korrigiert.
2 Apr 2017
## AUTOREN
André Zuschlag
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