# taz.de -- Essay zur Pressefreiheit in der Türkei: Das dunkle Loch weit hinte… | |
> Auch Auslandskorrespondenten geraten zunehmend unter Druck. Wie es sich | |
> anfühlt, in diesen Tagen aus der Türkei zu berichten. | |
Bild: Als die Deutschen begannen, sich für die Türkei zu interessieren: Istan… | |
Wenn sich dieser Tage ausländische Journalisten in Istanbul auf der Straße | |
treffen, gibt es nur ein Thema: Hast du schon gepackt oder bleibst du noch? | |
Tatsächlich haben in den letzten Monaten bereits etliche ihre Zelte | |
abgebrochen und seit der Welt-Kollege [1][Deniz Yücel Montagnacht | |
verhaftet] wurde, ist aus einem vagen Unsicherheitsgefühl eine reale | |
Bedrohung geworden: ausländische Korrespondenten, zumindest kritische | |
Schreiber aus dem Westen, sind im Reiche Recep Tayyip Erdoğans anscheinend | |
generell nicht mehr erwünscht. | |
Nicht nur viele deutsche Kollegen, sondern auch Briten, Amerikaner, | |
Franzosen und Spanier, die gesamte Riege westlicher Korrespondenten, ziehen | |
daraus die Konsequenz und sind dabei, sich nach und nach von der Türkei zu | |
verabschieden. | |
Die Türkei droht wieder zu einem dunklen Loch zu werden. Einem Land, aus | |
dem ausländische Journalisten bei gelegentlichen Besuchen Horrorstorys über | |
Repression und den Irrsinn der Herrschenden mitbringen, dem Land, „weit | |
hinten im Osten“, wie es im 19. Jahrhundert der spätere deutsche | |
Generalfeldmarschall Moltke beschrieb. | |
## Oberflächliche Gruselstories | |
Mit Moltke, der vom damaligen preußischen König an den osmanischen Sultan | |
ausgeliehen worden war, um dort eine Heeresreform in Gang zu bringen, | |
beginnt die politische Reiseliteratur über die im Dunkeln liegende Türkei | |
in Deutschland. | |
Das intensivierte sich, als Wilhelm II entdeckte, dass das Osmanische Reich | |
der aufstrebenden deutschen Großmacht dabei behilflich sein könnte, seinen | |
„Platz an der Sonne“ zu erobern, was dann zur „Waffenbrüderschaft“ im | |
Ersten Weltkrieg führte, die bekanntlich mit der gemeinsamen Niederlage, | |
dem Ende des Osmanischen Reiches und der deutschen Monarchie ihren | |
Abschluss fand. | |
Danach verschwand die Türkei wieder aus der deutschen Wahrnehmung, was sich | |
selbst dann kaum änderte, als per Anwerbepolitik zehntausenden „türkische | |
Gastarbeiter“ aus Anatolien in die damalige Bundesrepublik verfrachtet | |
wurden. So wenig die meisten Deutschen sich für das Schicksal dieser | |
Arbeitsmigranten interessierten, so wenig wusste man in Deutschland über | |
das Land, aus dem sie kamen. | |
Als ich im Frühjahr 1980 das erste Mal als Journalist in die Türkei reiste, | |
hatte sich daran noch wenig geändert. Es gab kaum Literatur, um sich zu | |
informieren, in den Zeitungen und Magazinen gab es nur wenige und | |
oberflächliche Gruselstories über blutige Auseinandersetzungen und schlimme | |
Repression. Der linke Journalist Jürgen Roth war damals einer der ganz | |
wenigen, der die Türkei regelmäßig bereiste und auch Bücher darüber | |
veröffentlichte. | |
## Linke Bewegung – rechte Todesschwadronen | |
Tatsächlich war die innenpolitische Situation in der Türkei im Frühjahr | |
1980 dramatisch. Völlig außerhalb der europäischen Wahrnehmung hatte sich | |
in den siebziger Jahren in Anlehnung an die Studentenbewegung im Westen | |
eine große linke Bewegung entwickelt, die von den Universitäten über die | |
Gewerkschaften bis weit in die Industriearbeiterschaft reichte, was sich in | |
Massenstreiks und Universitätsbesetzungen manifestierte. Dagegen setzte der | |
Staat nicht nur Polizei und Militär ein, auch rechtsradikale | |
Todesschwadronen wurden heimlich unterstützt. | |
In etlichen Gebieten herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände, die das | |
Militär im September 1980 zum Anlass nahm, mit einem Putsch die Macht an | |
sich zu reißen. Zehntausende linke Aktivisten, Gewerkschafter und Studenten | |
verschwanden in Lagern und Gefängnissen, es wurde gefoltert und getötet. | |
Der Putsch führte auch zum bewaffneten Widerstand in den kurdischen | |
Gebieten und half der PKK zu dem zu werden, was sie heute ist. | |
Als junger Journalist war ich fasziniert von dem Land und den Leuten, die | |
für ihre politischen Ideen ihr Leben riskierten. Für die deutsche | |
offizielle Politik war die Türkei dagegen lediglich der nützliche | |
Nato-Partner, der die Südostflanke Europas gegen die Sowjetunion deckte. | |
Der damalige Verteidigungsminister im Kabinett Schmidt, Hans Apel, wollte | |
den Putsch nicht verurteilen, da er ja dazu diene, die Stabilität an eben | |
dieser Südostflanke wiederherstellen. | |
Von heute aus gesehen ist es schier unglaublich, dass in Deutschland und im | |
Westen insgesamt vom türkischen Kampf gegen Ausbeutung und für Demokratie | |
kaum etwas zur Kenntnis genommen wurde. Es gab so gut wie keine | |
ausländischen Korrespondenten in der Türkei. In den Tagen nach dem Putsch | |
suchte das staatliche Presseamt in Ankara so händeringend nach einem | |
Korrespondenten, der den vom Militär eingesetzten Ministerpräsidenten | |
interviewen könnte, dass sie mich fragten – einen Vertreter einer damals in | |
Deutschland kaum bekannten linksradikalen Zeitung. | |
## Hoffnungen auf demokratische Öffnung | |
Das änderte sich sehr langsam, als nach der Militärdiktatur mit Turgut Özal | |
in Ankara eine Art türkischer Thatcher/Reagan-Ableger an die Macht kam und | |
die Türkei an die europäische Freihandelszone heranführte. Mit dem | |
ausländischen Kapital kamen auch ausländische Korrespondenten, aber immer | |
noch wenige. | |
Bahar Güngör, der in Deutschland Journalismus gelernt hatte, durfte für die | |
dpa aus Ankara berichten, die großen deutschen Zeitungen begnügten sich | |
aber weiterhin damit, ihre Korrespondenten aus Athen gelegentlich | |
vorbeischauen zu lassen. Die taz war übrigens eine der wenigen Zeitungen, | |
die mit Ömer Erzeren bereits seit 1984 einen Mann vor Ort hatte. | |
Langsam begannen sich auch so etwas wie deutsch-türkische Beziehungen zu | |
entwickeln. Aus den Arbeitsmigranten wurden Einwanderer, Özal war der erste | |
türkische Ministerpräsident, der Ende der 80er Jahre einen Antrag auf | |
Mitgliedschaft in der damaligen EWG, dem Vorläufer der EU, stellte. Obwohl | |
er in Brüssel auf taube Ohren stieß, wurde das Land dennoch zu einem Faktor | |
in der europäischen Politik. | |
Für die Journalisten, die regelmäßig in die Türkei reisten oder dort | |
stationiert waren, verband sich damit die Hoffnung, dass die Annäherung an | |
die EU den demokratischen Kampf in der Türkei unterstützen würde. | |
Tatsächlich war das auch indirekt der Fall. Bei allem Auf und Ab in den | |
90er Jahren wurde die EU-Mitgliedschaft zu einem parteienübergreifenden | |
Staatsziel, vor dessen Hintergrund eine demokratische Öffnung durchgesetzt | |
werden konnte. | |
## Merkel beendet den türkischen Traum | |
Für uns ausländische Korrespondenten war das ein Segen. Weil die jeweiligen | |
Regierungen keinen ernsthaften Konflikt mit ihren westlichen Partnern | |
riskieren wollten, wurde die Berichterstattung kaum behindert und selbst | |
die türkischen Kollegen wurden zunehmend freier. Mit der Entscheidung der | |
EU im Jahr 1999, die Türkei formal zum Beitrittskandidaten zu ernennen, | |
schien der Jahrhunderte alte türkische Traum, Teil des Westens zu sein, | |
unmittelbar vor der Vollendung zu stehen. | |
Diesen Traum beendete nicht Recep Tayyip Erdoğan, sondern Angela Merkel, | |
als sie nach ihrem Wahlsieg 2005 die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei | |
de facto zu den Akten legte. Ob Erdoğan jemals ernsthaft die | |
rechtsstaatlichen und freiheitlichen Kriterien der EU umgesetzt hätte, ist | |
seitdem eine müßige Frage. Merkel, und etwas später mit ihr der | |
französische Präsident Sarkozy, sorgten dafür, dass er nie auf die Probe | |
gestellt wurde. Seitdem sind auch die deutsch-türkischen Beziehungen im | |
Niedergang begriffen. | |
Dass Erdoğan seitdem in Richtung orientalischer Despotie statt europäischer | |
Zivilgesellschaft marschiert, ist sicher nicht nur Merkels Schuld, aber sie | |
hat, als Kanzlerin des entscheidenden EU-Landes, einen beträchtlichen | |
Anteil daran. | |
## Kurzfristige egoistische Motive | |
Auch ihr spätes Interesse an der Türkei seit dem Flüchtlingsjahr 2015 hat | |
allein kurzfristige egoistische Motive, die Erdoğan nutzt, um seine | |
demokratischen Kritiker umso ungenierter zu unterdrücken. Er weiß | |
schließlich genau, dass ihre Sorge um die Pressefreiheit in der Türkei | |
reine Heuchelei fürs deutsche Publikum ist. | |
Erst jetzt, wo Erdoğan den aus seiner Sicht logischen Schritt macht und | |
sich auch an den Auslandskorrespondenten vergreift, hat Merkel ein Problem. | |
Das will die deutsche Öffentlichkeit nicht mehr durchgehen lassen, | |
Flüchtlingsabkommen hin oder her. | |
Aber auch wenn die Bundesregierung jetzt Deniz Yücel hoffentlich schnell | |
freipaukt – am grundsätzlichen Problem ändert das nichts mehr. Aus einem | |
Land, in dem die Pressefreiheit für die einheimischen Medien abgeschafft | |
wird, kann auch die ausländische Presse auf Dauer nicht frei berichten. | |
Da die EU und Merkel seit 2007, als sich Erdoğans Marsch in die Autokratie | |
abzuzeichnen begann, weder mit positiven Anreizen noch mit | |
Sanktionsdrohungen etwas dagegen getan haben, ist nun der Weg in die | |
Despotie kaum noch zu stoppen. Für ausländische Korrespondenten wird es | |
extrem schwer werden, Licht ins kommende Dunkel zu bringen. | |
4 Mar 2017 | |
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[1] /Deniz-Yuecel-in-Untersuchunghaft/!5388620 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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