| # taz.de -- Ungarischer Film „On Body and Soul“: Die Träume der Belegschaft | |
| > Gleich der Auftaktfilm im Wettbwerb, „On Body and Soul“, über Scham, | |
| > Seelenverwandtschaften und freies Sein legt die Messlatte hoch. | |
| Bild: Beschnuppern sich mit feuchten Nasen: die Hirsche in „On Body and Soul�… | |
| Dies war der erhofft großartige Auftakt des Berlinale-Wettbewerbs; die | |
| Messlatte liegt ab jetzt hoch. Dies ist ein Film über Scham und die | |
| Möglichkeit der seelischen (wie auch körperlichen) Öffnung, in einer Welt, | |
| die sich ihr Essen auf Plastiktellern serviert. Dies ist ein Film über | |
| Äußerungsformen von Seelenverwandtschaft und Beziehungsformen zwischen | |
| Menschen, aber auch zwischen uns Menschen und den Tieren (schlachten, | |
| verzehren, streicheln) – und am schönsten: zwischen Tier und Tier. | |
| Wie sich hier Hirsch und Hirschkuh in der freien Wildbahn begegnen (von | |
| einem Tiertrainer dazu gebracht, sich dem Gefühlsleben von Mária und Endre | |
| anzunähern), wie sie sich mit ihren feuchten Nasen beschnuppern, das ist | |
| nicht nur majestätisch und zugleich behutsam gefilmt (erster | |
| Kamerabär-Anwärter: Máté Herbai): es wird auch zum Sinnbild der sich hier | |
| vollziehenden Rückeroberung eines würdevollen, freien Seins. Im Kino, im | |
| europäischen (genauer: ungarischen) – ein Existenzbeweis. | |
| „Wenn du kein Mitleid hast, wirst du kollabieren“, gibt Endre, Leiter eines | |
| Schlachthauses, dem viel jüngeren, selbst bullenartigen Arbeiter Sándor mit | |
| auf den Weg. Literweise fließt Blut über Gummistiefel und -handschuhe, | |
| abgetrennten Stierköpfen werden markierte Ohren weggeschnitten: Seit | |
| Geyrhalters Dokumentarfilm „Unser täglich Brot“ hat man keine solche | |
| Inszenierung einer Rindertötungsanlage mehr gesehen. „Nur die Augen der | |
| Kühe zeigen, wie ignorant die Welt sein kann“, ergänzt Endre-Darsteller | |
| Géza Morcsányi (eigentlich Dramaturg, hier Schauspieldebüt) bei der | |
| Pressekonferenz. | |
| Seine Figur wird konfrontiert von der sehr blutleeren Mária, die | |
| perfektionistisch ihre Aufgabe, die Qualitätsprüfung, erfüllt. Während | |
| Endre die Polizei durch kleinere Bestechungen davon abhält, sich in den | |
| Betrieb einzumischen, wird Mária schon nach wenigen Arbeitstagen als | |
| Robo-Alien diskreditiert. Beim Anfreunden wirken auf beiden Seiten extreme | |
| (innere) Widerstände, die sich im magischen Schlüsselmoment des Films | |
| lösen. | |
| Denn als die Psychologin beim Mentalhygienecheck nach den Träumen der | |
| Belegschaft fragt, stellt sich heraus, dass die beiden dieselbe | |
| Hirsch-und-Hirschkuh-Geschichte träumen. Gepaart, ohne sich zu paaren. | |
| (Die souveräne alte Putzfrau hingegen, genial wie keck: „Im Traum? Ich | |
| ficke.“) | |
| Wo Durchschnitts-ARD-Kino in Soapszenarien des Alltags zurückführt, hebt | |
| Ildikó Enyedi diesen abstrakt auf eine Ebene, die dem Weltkino eine neue | |
| Dimension des Bewusstseins- und Seelenstudiums eröffnet. Aber auch eine | |
| andere Idee von Zivilisation. Auf den Tellern liegt in diesem Film kein | |
| Fleisch, sondern Kartoffelbrei. Márias Hand berührt ihn. Wie sie Kühe | |
| streichelt. | |
| 11 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Wurm | |
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