| # taz.de -- Berlinale und Berliner Kinos: Karte zu einer fremden Welt | |
| > Wer das Risiko eines schlechten Films nicht scheut, kann auf der | |
| > Berlinale eintauchen in einen anderen Kosmos. Auch nach deren Ende geht | |
| > das Erlebnis weiter. | |
| Bild: Und rein geht's in die dunklen Säle der Kinos | |
| Wer sich traut, Filme auf der Berlinale zu schauen, braucht Ausdauer. Viel | |
| Ausdauer. Und das nicht erst beim Kauf der Tickets. Es beginnt schon beim | |
| Lesens des Programms, das nicht selten gewisse Hürden aufbaut. Ein | |
| Beispiel: „Als Antwort erzeugt Havarie durch die Verdichtung und Trennung | |
| vom Ton einen Wahrnehmungsraum, der die eigene Position erfahrbar macht, | |
| ohne das Thema aus dem Blick zu verlieren: ein radikaler Befreiungsschlag | |
| des Kinos.“ Hätten Sie sich diesen Film angeschaut? | |
| Oder diesen: „In ‚Les Sauteurs‘ findet ein einzigartiger | |
| Perspektivenwechsel statt: Dem abstrakt anonymen Wärmebild der | |
| Überwachungskamera wird der subjektive Blick eines Individuums | |
| entgegengesetzt.“ | |
| Jetzt ist wieder die Zeit für Filmfans, Ausdauer zu beweisen: Am gestrigen | |
| Freitag hat die Berlinale so richtig begonnen. Seitdem laufen in dichter | |
| Folge die ausgewählten knapp 400 Filme in vielen Kinos der Stadt, noch bis | |
| zum Sonntag kommender Woche. Wer das Festival zum ersten Mal besuchen will, | |
| steht vor einer schier unlösbaren Aufgabe: Welchen Film sollte man sich | |
| aussuchen? Anhand welcher Kriterien? Was, wenn man weder den Regisseur noch | |
| die Schauspieler kennt und auch das Thema nicht ganz versteht? | |
| Tatsächlich ist die Filmauswahl ein Lotteriespiel und nicht jeder Film ein | |
| Hauptgewinn. Wer schon Berlinale-Erfahrung hat, weiß: Nicht im Wettbewerb | |
| laufen die spannendsten Filme, sondern in den Nebenreihen; bisweilen haben | |
| die Beschreibungen in den Programmkatalogen und die Filmwirklichkeit wenig | |
| miteinander zu tun; selbst große Regisseure und Schauspieler machen auch | |
| mal schlechte Werke. | |
| Was natürlich nicht bedeutet, dass man es nicht wagen sollte, in den | |
| Berlinale-Kosmos einzutauchen. Wer – sagen wir – mehr als fünf Filme | |
| schaut, kann sich in wenigen Tagen ein höchst subjektives, aber nicht | |
| weniger eindrucksvolles und vor allem aktuelles Bild von der Vielfalt | |
| dieser unserer Welt verschaffen: von – sagen wir – Bauernprotesten in | |
| Nordindien über die queere Szene in einem politisch fiesen | |
| zentralafrikanischen Land bis zu schrägen Alltagsbetrachtungen eines | |
| Farmers in Nebraska. Oder von Schulproblemen in Schweden über | |
| avantgarde-russische Exzesse bis zu laaaangen Landschaftsszenen aus | |
| Patagonien. Und daneben irgendeinen halbneuer Hollywoodstreifen, der es aus | |
| kosmetischen Gründen ins Programm geschafft hat: weil Stars auf dem roten | |
| Teppich zum Filmbiz halt dazugehören. | |
| Dieses Unmittelbare und Unvorhersehbare vieler Filme, über die man im | |
| Vorfeld eben nicht schon sieben Besprechungen gelesen hat, macht den Reiz | |
| des Festivals aus. Dazu passt ein relativ entspannter Umgang mit dem | |
| Scheitern: Zum richtigen Leben gehören auch schlechte Filme (manchmal | |
| werden die übrigens im Rückblick wieder besser), und am Ende hat man | |
| ziemlich sicher ausgerechnet jenen Film der Berlinale verpasst, der | |
| vermeintlich der beste des Festivals war. Zumindest behaupten das alle | |
| anderen, die ihn gesehen haben. | |
| ## Das Beste kommt noch mal | |
| Zum Glück leben wir in Berlin: Hier kann man das Verpasste nachholen. Viele | |
| Berlinale-Filme schaffen es, in den folgenden Monaten in einem der hiesigen | |
| Programmkinos zumindest kurz gezeigt zu werden. Wie die beiden oben | |
| erwähnten, die in der Reihe Forum auf der Berlinale 2016 gezeigt wurden: | |
| „Havarie“, der „radikale Befreiungsschlag des Kinos“ von Philip Scheffn… | |
| lief vor wenigen Wochen regulär in den Kinos; „Les Sauteurs“ von Moritz | |
| Siebert, Estephan Wagner und Abou Bakar Sidibé bereits im November. | |
| Beide Filme handeln von Flüchtlingsschicksalen, beide haben eine | |
| ungewöhnliche Ästhetik, beide sind auf ihre Art spannend und sehenswert. | |
| Und man wusste nun auch, weil sie intensiv besprochen wurden, worauf man | |
| sich einlässt. Das ist praktisch. Aber auch irgendwie schade. Weil dann | |
| doch die Festivalatmosphäre fehlt. | |
| Dieser Text ist Teil des aktuellen Wochenendschwerpunkts der taz.berlin | |
| über hiesige Kinos. Darin außerdem: Ein Streifzug durch kleine | |
| Lichtspielhäuser und ein Interview mit den Entdeckern des Stummfilmkinos | |
| Delphi. Im Briefkasten und am Kiosk | |
| 11 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Bert Schulz | |
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