# taz.de -- Atomkraftwerke in Deutschland: Wird schon nichts passieren | |
> Wie gut die laufenden AKWs gegen Flugzeugabstürze gesichert sind, ist | |
> unklar. Eine Untersuchung zum Thema wird verschleppt. | |
Bild: Schöner wohnen in Essenbach, Niederbayern. (Nicht im Bild: die Spitze de… | |
BERLIN taz | Als am 11. 9. 2001 zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade | |
Centers in New York krachen, stellt sich die Bundesregierung die Frage: | |
Was, wenn einer auf die Idee kommt, mit einer entführten Passagiermaschine | |
in ein deutsches Atomkraftwerk zu fliegen? Halten die Anlagen das aus? | |
Die Antwort lautet bis heute: Kann sein. Bei den wirklich großen Maschinen | |
weiß man das nicht so genau. Eine Untersuchung zu der Frage wird seit 2002 | |
verschleppt und auch von den Grünen nicht weiter forciert. Die feiern | |
gerade ihren Erfolg: Kürzlich verabschiedete der Bundestag ein Gesetz zur | |
Zwischen- und Endlagerung des Atommülls. Eon, RWE, Vattenfall und EnBW | |
haben dazu Rückstellungen gebildet, die aber futsch wären, wenn die | |
Konzerne pleitegehen sollten. Jetzt überweisen sie bis zum Jahr 2022 rund | |
23,55 Milliarden Euro in einen staatlichen Fonds – eine alte Forderung der | |
Grünen. Wahrscheinlich wird die Atommüllentsorgung aber teurer, das zahlt | |
dann der Staat. | |
Das Atomzeitalter in Deutschland wird gerade in breitem Konsens | |
abgewickelt. Es scheint so, als wolle keiner mehr die Fässer der | |
Vergangenheit aufmachen. Zum Beispiel die Sache mit den Flugzeugen. | |
Fangen wir von vorn an. | |
2001 beauftragt die Bundesregierung die GRS, die Gesellschaft für Anlagen- | |
und Reaktorsicherheit in Berlin, damit, zu untersuchen, wie gut deutsche | |
AKWs gegen Terrorismus geschützt sind. Die GRS setzt beispielsweise Piloten | |
in Flugsimulatoren, die virtuelle Flugzeuge in virtuelle Kraftwerke | |
fliegen. | |
Das Endergebnis des Gutachtens „Schutz der deutschen Kernkraftwerke vor dem | |
Hintergrund der terroristischen Anschläge in den USA vom 11. September | |
2001“ ist beunruhigend: Große Flugzeuge würden die Reaktorgebäude der | |
älteren Kraftwerke durchschlagen. Die Schutzkuppeln der neueren Kraftwerke, | |
gefertigt aus Stahlbeton von mehr als einem Meter Dicke, würden nicht | |
„durchstanzt“ werden, wie es im Fachjargon des Berichts heißt. Das | |
Bundesumweltministerium unter dem grünen Minister Jürgen Trittin hält die | |
GRS-Studie von November 2002 unter Verschluss, bis dann zwei Jahre später | |
doch jemand eine Zusammenfassung an die Süddeutsche Zeitung durchstanzt – | |
sozusagen. | |
Trotz der Sicherheitsbedenken bleiben die alten Meiler wie Neckarwestheim 1 | |
und Biblis A am Netz. Vor einigen Kraftwerken installieren die Betreiber | |
militärische Nebelwerfer, die anfliegenden Terroristen die Sicht rauben | |
sollen. | |
## Nicht jedes AKW überprüft | |
Heute sind nur noch die neueren AKWs am Netz, etwa Emsland oder | |
Neckarwestheim 2. Doch auch die sieht der Bericht der GRS als kritisch: | |
Zwar würden die Reaktorgebäude dem Einschlag selbst großer Flugzeuge | |
standhalten, allerdings gebe es in den AKWs „erhebliche Unsicherheiten“. | |
Experten sprechen davon, dass Teile der Betonkuppel im Inneren abplatzen | |
und den Reaktorkern zerstören oder beschädigen könnten. Kühlrohre könnten | |
aus der Verankerung gerissen werden, das Kerosin zu Bränden führen. | |
Atomkraftwerke in Deutschland haben zwar gemeinsame Baureihen mit gleicher | |
Grundbauweise, im Detail ist aber jedes ein Unikat. Die GRS hat 2002 nicht | |
jedes Kraftwerk überprüft, sondern nur einzelne, wie das AKW Emsland – und | |
hat dann die Ergebnisse auf ähnliche AKWs übertragen. Die Autoren der | |
Studie schlugen deshalb vor, bei jedem Reaktor spezifisch zu prüfen, ob er | |
Flugzeugabstürze aushält. Passiert ist danach: nichts. | |
Ursprünglich ausgelegt sind die Anlagen, die jetzt noch am Netz sind, gegen | |
den Absturz einer Militärmaschine vom Typ McDonnell Douglas F-4 Phantom II. | |
Wenn die mit 750 Stundenkilometern auf die Betonhülle donnert, dann muss | |
das AKW das aushalten. So definierte man in den Siebzigern, als die Meiler | |
geplant wurden, Sicherheit. | |
Nur lässt sich eine Phantom nicht einfach in eine Passagiermaschine | |
umrechnen, die zwar langsamer, dafür aber schwerer ist und vor allem | |
wuchtigere Triebwerke hat. Deshalb ist eine spezifische Untersuchung je | |
nach Kraftwerk so wichtig. | |
## Ungekühlter Prüfkreislauf | |
Es kommt der 11. März 2011 – Fukushima. Angela Merkel lässt daraufhin in | |
Deutschland die ältesten AKWs vom Netz nehmen und beauftragt ein wichtiges | |
Beratergremium, die Sicherheit der Kernkraftwerke neu zu bewerten: die | |
Reaktorsicherheitskommission, kurz RSK. In ihr sitzen unabhängige | |
Ingenieure, Vertreter des TÜV, Experten aus Hochschulen und die Betreiber | |
der Atomkraftwerke selbst. | |
Im Jahr 2011 hat die RSK kaum Zeit für ihre Erhebungen, weil die | |
Bundesregierung eine schnelle Entscheidungsgrundlage braucht. Die Experten | |
prüfen nicht die Anlagen vor Ort, sondern tragen Unterlagen der Betreiber | |
und alte Studien zusammen. Es geht um Erdbeben, Hochwasser, einen Ausfall | |
der Kühlsysteme, um Flugzeugabstürze und Brände, die durch das Kerosin | |
entstehen. Grundlage der Bewertung: die alte GRS-Studie aus dem Jahr 2002. | |
Schließlich legt die RSK das Papier „Anlagenspezifische | |
Sicherheitsüberprüfung (RSK-SÜ) deutscher Kernkraftwerke unter | |
Berücksichtigung der Ereignisse in Fukushima-I“ vor. Als das Bundeskabinett | |
am 6. Juni 2011 den erneuten Atomausstieg beschließt, ist diese | |
Untersuchung die Grundlage. Die sieben ältesten Atomkraftwerke, also die | |
besonders verwundbaren gegen Flugzeugabstürze, werden stillgelegt, außerdem | |
muss der neuere Pannenreaktor Krümel vom Netz. Acht Reaktoren bleiben in | |
Betrieb – weil sie robuster als die alten sind. Nur: wie viel robuster? | |
„Die Kernkraftwerke in Deutschland verfügen über einen deutlichen | |
Grundschutz, das haben wir damals bescheinigt“, sagt Rudolf Wieland, | |
Geschäftsführer von TÜV Nord Systems und Vorsitzender der RSK. | |
## 15 lange Jahre | |
Die RSK definiert in ihrem Bericht damals drei Sicherheitsstufen für AKWs. | |
Den Schutzgrad 1 erfüllen alle, was heißt: Den Absturz einer „Phantom“ | |
halten sie aus. Bei den Schutzgraden 2 und 3 geht es um größere | |
Passagierflugzeuge. Mit Bezug auf diese Maschinen schreibt die RSK: „Die | |
mögliche Erfüllung dieses Schutzgrads hängt von der Vorlage zusätzlicher | |
Nachweise und deren Bestätigung ab.“ Es fehlen genau die Nachweise, die | |
bereits 2002 nicht vorlagen. | |
Jetzt ist bald 2017, und die Nachweise liegen immer noch nicht vor. | |
Federführend arbeitet wieder die Gesellschaft für Reaktorsicherheit daran. | |
Das Bundesumweltministerium schreibt auf Anfrage, Anfang 2017 sei alles so | |
weit, das glaubt auch Wieland. Das Umweltministerium in Niedersachsen | |
vermutet, man sei Ende 2017 mit Studie und Beratungen durch die RSK fertig. | |
Das wäre dann also fünfzehn Jahre, nachdem die GRS ursprünglich darauf | |
hinwies, man müsse jedes Atomkraftwerk für sich untersuchen. | |
Und fünfeinhalb Jahre, nachdem die RSK die gleiche Forderung gestellt hat. | |
Warum dauert das so lange? | |
Wieland verweist darauf, dass es vor allem darum gehe, zu prüfen, die | |
Einschätzung der RSK von 2011 zu bestätigen – dass das Risiko von | |
Flugzeugabstürzen also grundsätzlich beherrschbar sei. | |
Die Atomkraftwerke werden dabei detailliert am Rechner nachgebildet, ebenso | |
die potenziell anfliegenden Flugzeuge – Grundlage sind die Daten der | |
Hersteller. Das größte Flugzeug der Welt, der A380 von Airbus, wird | |
allerdings nicht simuliert. „Das Projekt wird wesentliche Ergebnisse zur | |
Widerstandskraft eines Kernkraftwerks gegen Einwirkungen von außen | |
erbringen. Die Ergebnisse können auch international Interesse finden“, sagt | |
Wieland. | |
Wolfgang Renneberg hat eine andere Theorie, warum es mit der Untersuchung | |
nicht wirklich jemand eilig hatte. Er leitete von 1998 bis 2009 die | |
Abteilung Reaktorsicherheit, Strahlenschutz und Entsorgung im | |
Bundesumweltministerium und gründete später das Büro für Atomsicherheit. | |
Seiner Einschätzung nach kann eine solche Sicherheitsuntersuchung durchaus | |
dazu führen, dass die Betreiber ihre AKWs nochmals aufrüsten müssen. Etwa, | |
indem Rohrleitungen im Inneren der AKWs anders verlegt oder besser gegen | |
herabfallende Trümmer geschützt werden. | |
## „Politisch abgegessen“ | |
Ob sich das noch lohnen würde, wenn die letzten Meiler ohnehin 2022 vom | |
Netz gehen, ist eine andere Frage. Renneberg vermutet: „Etwas grundlegend | |
Neues wird bei der Untersuchung nicht herauskommen. Es ist allen klar, dass | |
die deutschen Atomkraftwerke gegen den Absturz großer Verkehrsflugzeuge | |
nicht geschützt sind“, sagt er. Für ihn ist das Thema Atomsicherheit nach | |
wie vor sehr wichtig. Mit Atomkraftwerken und deren Schutz vor einem | |
Verkehrsflieger könne sich aber keine Partei mehr profilieren, das Thema | |
sei „politisch abgegessen.“ | |
Der Atomausstieg bis 2022 ist besiegelt, nur die Linke wollte es schneller. | |
Union, CDU, SPD und FDP haben 2011 die politische Entscheidung gefällt: Das | |
geringe, aber vorhandene Risiko, dass der Absturz großer Flugzeuge, also | |
etwa eines A380 oder einer Boeing 747, einen atomaren Super-GAU in | |
Deutschland auslösen könnte, wird bis 2022 in Kauf genommen. | |
Die einzige Alternative wäre, die Kraftwerke früher abzustellen. An einer | |
erneuten öffentlichen Debatte darüber haben Union, SPD und Grüne definitiv | |
kein Interesse – weswegen auch niemand ein Problem hat, eine Studie zu | |
verbummeln, die eine solche Debatte von Neuem befeuern könnte. Auch die | |
Grünen könnten politisch nur verlieren, schließlich stellen sie für die | |
Aufsicht von fünf von acht Atomreaktoren die zuständigen Umweltminister in | |
Baden-Württemberg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Es herrscht eben | |
Atomfrieden im Land. Wird schon nichts passieren bis 2022. | |
27 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arzt | |
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