# taz.de -- Atomkraft im Nordwesten Englands: Im Schatten der Strahlen | |
> Im Stammland der britischen Nuklearindustrie sind Zweifel an der | |
> Atomkraft unbeliebt. Atomkraftgegner lassen trotzdem nicht locker. | |
Bild: In Sellafield steht eine Wiederaufarbeitungsanlage für radioaktiven Mül… | |
CUMBRIA taz | Vom Friedhof einer alten Kirche aus zeigt Marianne Birkby in | |
die Weite. Eine große Grasfläche tut sich auf, davor uraltes Moor. Auf dem | |
Friedhof steht ein 1.000 Jahre altes Grab mit druidischer Inschrift. „Das | |
ist Moorside“, erklärt Birkby, „wo die Regierung gerne drei neue | |
Atomkraftwerke hinstellen möchte.“ | |
Am Horizont ragt eine riesige Industriesilhouette empor, benannt nach dem | |
einstigen Dorf Sellafield. Hier im Nordwesten Englands entstand direkt nach | |
dem Zweiten Weltkrieg Großbritanniens erstes Atomkraftwerk, das zunächst | |
Windscale hieß und Plutonium für das britische Atomwaffenarsenal | |
herstellte. Hier gab es 1957 einen großen Reaktorunfall, hier steht bis | |
heute eine Wiederaufarbeitungsanlage für radioaktiven Müll aus aller Welt, | |
umgeben von mit radioaktivem Material gefüllten Gebäuden. | |
Es ist ein Hochsicherheitsgelände. Als Birkby mit einer kleinen Gruppe von | |
Atomkraftgegnern das Denkmal der Opfer von 1957 aufsucht, auf öffentlichem | |
Gelände vor dem doppelten Stacheldrahtzaun, wartet schon die Polizei. Die | |
Beamten verlangen die Personalien der Gruppe und beobachten sie bis zur | |
Rückkehr auf den Parkplatz, „aus Sicherheitsgründen“. | |
Berichten zufolge ist der Zustand der WAA Sellafield kritisch. So soll | |
verstrahltes Wasser eines riesigen Kühlbeckens seit Jahren durch Risse im | |
Beton in den Grund sickern. Es fließt auch radioaktives Wasser in die | |
Irische See. Der ehemalige Entsorgungsdirektor des staatlichen Betreibers | |
Sellafield Ltd, Jack De Vine, bezeichnete Sellafield in einer BBC-Sendung | |
als „tickende Zeitbombe“. | |
Seit Neuestem gehört zur Leitung von Sellafield Ltd auch der bisherige | |
Wahlkreisabgeordnete Jamie Reed. „Aus familiären Gründen“, gab der | |
Labour-Politiker Ende 2016 bekannt, gebe er nach elf Jahren seinen | |
Parlamentsjob auf. Im Januar wurde er Direktor für Entwicklung und | |
Community Relations bei Sellafield Ltd. Deswegen gibt es jetzt Neuwahlen im | |
Wahlkreis Copeland, wo Sellafield liegt. | |
## Ja zu neuer Atomkraft – für das Klima | |
Die Nachwahl sollte für Labour eigentlich kein Problem sein. Die | |
Arbeiterpartei hält Copeland seit 80 Jahren. Doch Labours Parteichef Jeremy | |
Corbyn schafft es, auch diese Wahl zur Zitterpartie zu machen, war er doch | |
in der Vergangenheit Kritiker der Atomkraft. | |
An der sogenannten Energieküste Großbritanniens stellte Corbyns Haltung | |
nicht nur für den Labour-Abgeordneten Reed ein Problem dar. Wirtschaftliche | |
Alternativen zu Sellafield gibt es in dieser Region wenige, vom | |
touristischen Lake District abgesehen. Ein Vater, der mit seinen zwei | |
Kinder an der Marina in Whitehaven spazieren geht, ist da ganz typisch: | |
„Ich besitze einen Laden in Whitehaven und das Geschäft hängt von den | |
Einkäufen der Angestellten von Sellafield ab“, sagt er. „Deshalb kommt | |
keine Partei für mich in Frage, die das gefährdet.“ | |
Jamie Reed hat auch schon für das geplante neue AKW Moorside geworben, eine | |
Erweiterung Sellafields. Seit seinem Rücktritt kennt Copeland keine | |
Parteien mehr, nur noch AtomkraftbefürworterInnen. Die Konservativen | |
zitieren auf ihren Flugblättern Labour-Chef Corbyn mit dem Satz „Ich sage | |
Nein zur Atomkraft“ und zeigen ihre eigene Kandidatin Trudy Harrison vor | |
der Sellafield-Anlage, wo sie einst Projektleiterin war. | |
Labour zitiert Corbyn lieber nicht, sondern schickt für Reeds Nachfolge | |
eine Atomkraftfreundin ins Rennen: Gemeinderätin Gillian Throughton, die | |
zur Kernkraft Ja „ohne Wenn und Aber“ sagt: Ihr Mann arbeitet in Sellafield | |
im Sicherheitsbereich. Liberaldemokratin Rebecca Hanson unterstützt das | |
geplante neue AKW Moorside, „um die Klimaziele einzuhalten“, wie sie der | |
taz schreibt. | |
Auch die Ukip-Kandidatin steht voll hinter „nuklearer Erneuerung“. | |
Inzwischen twitterte auch Corbyn: „Ich unterstütze neue Atomenergie in | |
Copeland als Teil eines besseren Energiemixes, um die Lichter an zu lassen | |
und den Klimawandel zu verhindern.“ | |
## Geheimsache Krebs | |
In einem Reihenhaus mit Blick über Whitehaven sitzt Stuart Armstrong, 57, | |
in seinem Wohnzimmer. „Entschuldigung, dass ich mich verspätet habe, ich | |
habe nur schnell draußen die Vögel gefüttert“, beginnt er. Über dem Kamin | |
stehen zwei Buddhas, auf der Treppe im Gang ein dritter, mit | |
Räucherstäbchen. Armstrong erzählt von seiner Arbeit in Sellafield von 1976 | |
bis 1994. | |
„Souvenir!“, sagt er und greift nach einer alten 3M-Schutzmaske. „Das ist | |
alles, was sie uns verdammt noch mal gaben. Sie sagten nur, dass die Arbeit | |
unsere Spermienzahl beeinflussen könnte. Von Krebs, Herz und Hirnschlag | |
sagte keiner was. Ich war 16, als ich anfing. Ich glaubte ihnen und nahm | |
das Extrageld.“ | |
Zu Armstrongs Aufgaben gehörte, radioaktive Gegenstände zu tragen, „ohne | |
dass es groß Schutzkleidung gab“, erinnert er sich. „Heute wird die gleiche | |
Arbeit von Robotern gemacht.“ 1994 brach Armstrong zusammen und kam mit | |
einer Gehirnblutung ins Krankenhaus, im Alter von nur 34 Jahren. Armstrong | |
schaut auf seine Hände und beginnt aufzuzählen. | |
„Dwayne, von meinem Team: tot. Jeremy: starke Arthritis. Jam, ich arbeitete | |
mit dem: tot, der hatte einen Hirntumor! Shaun: tot! Steve. Simon. Big Boy. | |
Tex. Marley. Charley Roger, er hatte Herzfehler mit 49: Tot. Eddie, der | |
hatte Krebs und bekam Entschädigung. Duncan, sein Schutzanzug platzte, und | |
er war Uranstaub ausgesetzt.“ | |
Die Gewerkschaft war nicht interessiert, sagt Armstrong. Über Entschädigung | |
musste er sich selbst kundig machen. Er hatte Pech. Obwohl Hirnblutung eine | |
Folge von Radioaktivität sein kann, zählt es nicht zu den von Sellafield | |
anerkannten Arbeitsfolgeschäden. Armstrong glaubt, sobald Mediziner etwas | |
ahnen, werden sie weggeschickt oder unter Druck gesetzt. | |
„Wenn ich nicht immer so erschöpft wäre, hätte ich mich bei den Nachwahlen | |
selber als Unabhängiger beworben und den Leuten gesagt, was abgeht“, meint | |
Armstrong. „Wenn sie mir von Anfang an die Wahrheit gesagt hätten – ich | |
hätte nie im Leben dort gearbeitet.“ Jetzt habe er weder Kraft noch Geld, | |
um weiterzukämpfen. Gute Tage verbringt er mit Malen. | |
## Zehnmal höhere Leukämierate | |
Stuart Armstrong ist nicht der Einzige auf der Suche nach Wahrheit im | |
britischen Atomrevier. Die Anti-Atom-Gruppe „Cumbrier gegen eine | |
radioaktive Umwelt“ (CORE) zählt 690 radioaktive Vorfälle zwischen 1950 und | |
2001. „Am Ende wird alles rauskommen, es ist nur eine Frage der Zeit“, | |
versichern die beiden CORE-Gründer Janine Allis-Smith und Martin Forwood. | |
Sie sind eins von etwa 25 Elternpaaren, deren Kinder um 1980 urplötzlich an | |
Leukämie erkrankten. Die Leukämierate war um Sellafield zehnmal höher als | |
anderswo. Nur die Hälfte der kranken Kinder überlebte. Ihr Sohn gehörte | |
dazu, sie hatten Glück. | |
Auch an anderen, seltenen Tumoren begannen Menschen hier auffällig oft zu | |
sterben, erinnert sich Allis-Smith. Als Ursache vermutet sie die | |
radioaktiven Abwasser im Meer. Zwar setzt sich Plutonium am Meeresgrund | |
fest, doch löst es sich nach und nach und kehrt an die Strände zurück und | |
von dort mit dem Wind landeinwärts, erläutert sie. „Wir gingen damals wie | |
alle an den Strand“, erzählt Allis-Smith. Auch heute sieht man Eltern mit | |
Kindern und Hunden an Stränden nahe Sellafield. | |
1992 klagte CORE gegen Sellafield. Ein Gutachter behauptete, die | |
Leukämiefälle würden nicht auf Radioaktivität zurückgehen, sondern auf ein | |
Virus, „das Zugezogene mitbrachten“. Mit dieser Theorie gewann der | |
Atomkraftbetreiber das Verfahren. Seitdem heißt es offiziell, dass kein | |
erhöhtes Krebsrisiko bestehe. | |
CORE bleibt skeptisch: Zwar würde heute tatsächlich weniger radioaktives | |
Material ins Meer geleitet als früher, aber bei den jährlichen Bodenproben | |
würde man nie tiefer als einen Zentimeter graben. „Die älteren und tiefer | |
liegenden sehr radioaktiven Schichten werden ignoriert“, warnt Allis-Smith: | |
„Bei einer Sturmflut wird das alte Material wieder gelöst.“ | |
Neben CORE gibt es die Gruppe „Radiation-Free Lakeland“ mit 650 Mitgliedern | |
auf Facebook. Sie ist zu einem unangemeldeten Aktionstag in die | |
Fußgängerzone von Workington gekommen, ein Ort nördlich von Whitehaven. Als | |
radioaktive Tonnen verkleidet, sammeln die AktivistInnen Unterschriften für | |
die Offenlegung der lokalen Krebsstatistik. Sie stoßen auf Zurückhaltung: | |
Nach zwei Stunden haben sie ein Dutzend Unterschriften gesammelt. | |
## Natur muss ins Gleichgewicht zurück gebracht werden | |
Der 41-jährige John, der aus einem Café das Spektakel beobachtet, erklärt | |
das Dilemma. „Meiner Meinung nach ist Atomkraft sicher, denn ich arbeite in | |
Sellafield. Aber Leute wie die da draußen stellen Fragen und gehen denen in | |
Sellafield auf den Keks.“ | |
Ein Kandidat, der Sellafield sicherlich auf den Keks geht, ist Jack Lenox, | |
ein 29-jähriger Softwareentwickler, der für die Grünen antritt. Er stammt | |
aus dem Süden Englands und ist Veganer. Er wäre schon mit 5 Prozent | |
glücklich, sagt er. „Wogegen ich am meisten kämpfe, ist der Glaube, dass es | |
ohne neue Reaktoren keine Jobs in der Region gibt“, sagt er. „Das stimmt | |
nicht. Sellafield wird für viele Jahrzehnte für den Sanierungs- und | |
Abbauprozess Tausende anstellen.“ | |
Der Grüne bemängelt, dass Ausbildungswege in der Region einseitig auf die | |
Bedürfnisse der Nuklearindustrie zielen. „Atomkraft ist keine Lösung“, sa… | |
er. Cumbria müsse seine Natur insgesamt wieder ins Gleichgewicht bringen – | |
es gebe immer mehr Überschwemmungen bei starkem Regen, es sei dringend | |
Wiederaufforstung nötig. | |
Aber Lenox dringt kaum durch. Nur in der touristischen Marktstadt Keswick | |
findet sich auf den Straßen ein Grünen-Wähler. Dem 23-jährigen Chris Davids | |
geht es um die Cannabis-Legalisierung, nicht um Sellafield. „Denn wenn das | |
explodiert, wird es hier keiner mitbekommen.“ | |
21 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
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