# taz.de -- Die 130-Millionen-Einwohner-Stadt: Willkommen in Jing-Jin-Ji | |
> In China entsteht eine Metropole für 130 Millionen Einwohner. Das sind | |
> mehr Menschen, als in Deutschland, Polen, Österreich und der Schweiz | |
> leben. | |
Bild: Peking: groß und dreckig. Mit Jing-Jin-Ji soll alles besser werden | |
PEKING taz | „Ausverkauf“ steht auf einem großen Schild geschrieben. „70 | |
Prozent auf alles“, ruft Zhang Wei den Passanten hinterher. Doch das sind | |
nur wenige. Seitdem sich herumgesprochen hat, dass das Einkaufszentrum, in | |
dem sich ihre Boutique befindet, abgerissen werden soll, ist auch die | |
Laufkundschaft weniger geworden. „Wir stehen vor dem Aus“, sagt sie. | |
Zhang Wei hatte sich mit ihrem Laden einst auf Blumenmuster spezialisiert. | |
Sie zeigt auf eine Kleiderstange mit Blusen, Röcken und Mänteln. Mäntel und | |
Röcke mit Blumen bestickt, Kleider und T-Shirts mit Blumen gemustert. Sie | |
stehe auf dunkle Farben, sagt sie. „Bourdeauxrot, Schwarz, Lila, dunkles | |
Grün.“ Sie selbst trägt ein weinrotes Oberteil mit einer Blumenrosette, | |
darüber eine schlichte Jacke, ohne Blumen. „Kontrast“, sagt sie knapp. | |
Damit ihre Ware mehr hervorsticht. | |
Blumen erinnert sie an ihre Heimat im fruchtbaren Süden des Landes. Peking | |
hingegen ist karg und trocken. Sie schlägt mit der Hand auf die Mäntel, | |
Staub wirbelt auf. Dabei habe sie erst vor zwei Tagen sämtliche | |
Kleiderstücke ausgeklopft, sagt sie. Pekings Trockenheit sei aber nicht der | |
einzige Grund für den Staub. Sie zeigt auf das Ende des Gangs. Bauarbeiter | |
reißen Zwischenwände ein. „Chai“ steht in großen Schriftzeichen | |
geschrieben: „Abriss“. | |
Noch vor Kurzem war diese Gegend in der Nähe des Pekinger Zoos bekannt für | |
seine Kleidermärkte. Einkaufskomplexe mit Tausenden von Boutiquen und | |
Marktständen säumten die große Kreuzung an der zweiten Ringstraße. Sie | |
boten Mode für ziemlich jeden Geschmack – grell, schlicht, Winter- und | |
Sommerklamotten zu jeder Jahreszeit, günstig und massenhaft. Mongolen, | |
Kasachen, selbst Russen kamen angereist und stopften ihre Plastiktaschen | |
mit Jeanshosen, Lederjacken und T-Shirts voll. | |
## „Wer fährt schon freiwillig nach Hebei?“ | |
„Das ist nun vorbei“, sagt Zhang Wei. Sie zeigt über die Straße auf eine | |
gigantische Baustelle. Dort stand mal Tianhaocheng, der größte Kleidermarkt | |
in Peking. Er ist bereits abgerissen und wird im Umland in der | |
Nachbarprovinz Hebei neu errichtet, sagt sie. Dem Einkaufszentrum, in dem | |
Zhang Wei ihre Blusen, Kleider und Mäntel verkauft, steht das gleiche | |
Schicksal bevor. Ihr Geschäft in Hebei fortführen? „Unrealistisch“, | |
antwortet sie. „Wer fährt schon freiwillig nach Hebei?“ | |
Jing-Jin-Ji lautet das Zauberwort, das die Regierung ausgegeben hat: | |
dreimal J, dreimal i, zweimal n. An diesen Zungenbrecher sollten sich auch | |
Europäer langsam gewöhnen. Jing-Jin-Ji – das sind Bei-Jing, Tian-Jin, und | |
Ji, der traditionelle Name der umliegenden Provinz Hebei. Die größte | |
Megametropole der Welt soll bis 2030 hier entstehen mit über 200.000 | |
Quadratkilometern – die doppelte Fläche von Bayern – und mit 130 Millionen | |
Einwohnern mehr Menschen, als in Deutschland, Schweiz, Österreich und Polen | |
leben. | |
Damit die Infrastruktur mithalten kann, sind Hochgeschwindigkeitstrassen im | |
Bau. Und mit mehr als 1.000 Kilometern Länge wird die siebte Ringstraße | |
vorangetrieben. Peking mit seinen über 20 Millionen Einwohnern und die | |
benachbarte Hafenstadt Tianjin mit weiteren zehn Millionen platzen aus | |
allen Nähten, Wohnungspreise schießen in die Höhe, es fehlt an Schulen, | |
Kindergärten, Spielplätzen und Grün. | |
## Es stinkt nach Schwefel und Kohlebrand | |
Vor allem aber steckt Peking im Dauerstau. Mehr als sechs Millionen Autos | |
rollen täglich über eine der sechs Ringstraßen. Lücken in der Blechlawine | |
tun sich selten auf, das macht die Autofahrer aggressiv. Die U-Bahn ist | |
keine Alternative, da auch sie meist verstopft ist. Und dann ist da die | |
Luftverschmutzung. Fast die Hälfte des Jahres umhüllt ein graugelber | |
Schleier die Stadt, an extremen Tagen stinkt es nach Schwefel und | |
Kohlebrand. | |
Dehnen sich die beiden Städte in die umliegende Provinz aus, könnten sie | |
von Verkehr und Luftverschmutzung zumindest ein Stück weit entlastet werden | |
– so die Idee der chinesischen Regierung. Peking soll Zentrum für Politik | |
und Kultur bleiben und sich auf Hochtechnologie und Dienstleistungen | |
konzentrieren. Die Hafenstadt Tianjin wird sich als Industriezentrum | |
positionieren, Hebei soll Zentrum für Handel werden. Jing-Jin-Ji soll so | |
die wirtschaftsstärkste Megametropole der Welt werden. Trotz allem muss sie | |
aber auch lebenswert sein. Das derzeit noch trostlose Hebei soll auch | |
Naherholung bieten. | |
Doch viele Pekinger trauen den Plänen nicht. Sie wollen ihre Stadtviertel | |
nicht freiwillig verlassen. Die Pekinger Führung hilft daher nach. Teile | |
der Stadtverwaltung hat sie bereits in den Außenbezirk Tongzhou verlegt. | |
Die Zwangsverlagerung der Kleidermärkte gehört auch dazu. | |
## Frau Nings Schweißperlen | |
Ihre Nachbarn kennt Ning Xiaoxiao kaum. Freunde hat sie in ihrer Umgebung | |
auch keine. Sie seien allesamt weggezogen. Ning Xiaoxiao hat vom | |
Treppensteigen Schweißperlen auf der Stirn. Der Fahrstuhl ist defekt. | |
Dennoch ist sie froh, dass ihr die Zweizimmerwohnung gehört. Sie ist alles | |
andere als ein Juwel, ein Plattenbau aus den achtziger Jahren, die | |
Wandfarbe blättert und die einst weißen Fensterrahmen sind dunkel vom Smog. | |
Auch das Treppenhaus ist heruntergekommen, Müll stapelt sich. | |
Für diese Wohnung spricht, dass sie nur etwas außerhalb des dritten Rings | |
liegt, für Peking also noch zentral. Vom Balkon aus blickt Ning Xiaoxiao | |
auf den Chaoyang-Park, dahinter auf ein Meer von Hochhäusern. Es ist später | |
Abend. Sie hat lange gearbeitet. Ning lässt sie sich auf einen Stuhl | |
fallen. „Ich bin so froh, dass ich damals zugeschlagen habe“, erzählt sie. | |
Würde sie heute eine Wohnung suchen – sie könnte sich keine mehr leisten. | |
Dabei gehört Ning noch zu den Wohlhabenden. Sie ist 32 Jahre alt und leitet | |
ein Start-up, das ein Videoportal betreibt. Ning verdient rund 30.000 Yuan | |
im Monat, etwa 4.000 Euro, viermal so viel wie der durchschnittliche | |
Pekinger. Die Miete könnte sie sich hier trotzdem kaum leisten. 20.000 Yuan | |
im Monat sind nicht selten. Und ein Kauf käme sowieso nicht mehr in Frage. | |
## Peking für Millionäre | |
Hatte Ning 2012 mit Hilfe ihrer Familie noch rund 3.500 Euro pro | |
Quadratmeter bezahlt, hat sich der Preis mehr als verdoppelt. Allein seit | |
Jahresbeginn sind die Immobilienpreise um 30 Prozent gestiegen. „Wer heute | |
jung ist, top ausgebildet ist und einen guten Beruf gefunden hat, kann | |
trotzdem nicht nach Peking ziehen“, sagt Ning. „Zu teuer.“ | |
Der Immobilienboom hat das soziale Gefüge durcheinandergebracht. Wer schon | |
seit 20 Jahren in der Stadt lebt, hat Glück. Er bekamen Ende der 90er und | |
Anfang der nuller Jahre im Zuge der Liberalisierung des Wohnungsmarkts die | |
Wohnung, bis dahin in staatlicher Hand, für wenig Geld übertragen. Ob | |
Putzfrau, Taxifahrer oder Verwaltungsangestellter – der Boom hat sie nun zu | |
Millionären gemacht. | |
Daran will die chinesische Führung nicht rütteln. Jing-Jin-Ji soll diesen | |
Reichtum aber in die Provinz tragen. Ein Stück weit geht die Strategie auf. | |
Diejenigen, die ihre Wohnungen nun verkauft haben und in einer der neuen | |
Satellitenstädte in Hebei leben, sitzen auf sehr viel Geld. Arbeiten müssen | |
sie nicht mehr. | |
## Herr Cai braucht Sicherheit | |
Dieses Glück hat Cai Canggong nicht. Der 51-Jährige ist aus anderen Gründen | |
nach Hebei gezogen. Er ist Chef der Vicutu Clothing Company. Er hat kurzes | |
nach hinten gegeltes Haar. Ein Hemdzipfel hängt aus seinem Jackett heraus. | |
Der Kragen sitzt schief. Stolz zeigt er die neue Halle. Die Wände sind | |
frisch gestrichen, der Geruch der Farbe kratzt in der Nase. Rund zwei | |
Dutzend zumeist älterer Frauen nähen Hosen. | |
Keine von ihnen blickt auf, als Cai vorbeigeht. Vor einem halben Jahr | |
verlegte er seine Firma nach Hengshui in Hebei, rund 130 Kilometer vom | |
Pekinger Zentrum entfernt. „Freiwillig“, sagt er, mehr oder weniger. Die | |
Behörden haben ihm einen günstigen Pachtvertrag angeboten. „Es war ganz | |
sicher der richtige Schritt“, sagt er. Doch es gab auch andere Gründe. Er | |
brauche eine stabile Belegschaft. Die Kosten sollten kalkulierbar bleiben, | |
ebenso die Mieten. „Wir brauchen Planungssicherheit.“ | |
Diese fehlende Sicherheit ist für viele Unternehmer das größte Problem. Wer | |
in Peking ein Unternehmen oder auch nur ein Geschäft zum Laufen gebracht | |
hat, muss vielleicht bald schon schließen wegen der galoppierenden Miete. | |
Zudem kündigen Mitarbeiter, weil sie die Wohnungsmieten nicht zahlen | |
können. Sie wechseln in eine andere Firma. „Hundert Yuan Lohn im Monat mehr | |
und schon sind sie weg“, beklagt sich Cai. Das sind rund 13 Euro. Oder die | |
Mitarbeiter verlassen Peking gleich ganz. | |
## Mehr Wohlstand nach Hebei | |
In Peking und Tianjin liegen die Gehälter über dem Durchschnitt, es gibt | |
bescheidenen Wohlstand. Die meisten Menschen in der umliegenden Provinz | |
hingegen verdienen wenig und klagen über schlechte Sozial- und | |
Krankenversorgung. Auch die Schulen sind schlecht, die Jobaussichten | |
dürftig. Mit Jing-Jin-Ji sollen auch die Menschen in Hebei gewinnen. | |
Ob das klappt? China hat gezeigt, wie man Städte aus dem Boden stampft. | |
Landesweit gibt es sechs Städte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, | |
zehn weitere zwischen fünf und zehn Millionen Menschen. Doch reicht die | |
Erfahrung, um Jing-Jin-Ji zu errichten? | |
Boutiquen-Inhaberin Zhang Wei hält sich nicht bei solchen Fragen auf. „Mir | |
wird jetzt die Lebensgrundlage genommen“, klagt sie. Sie klopft auf ihre | |
Mäntel. Staub wirbelt auf. „Ich habe diese Gegend noch nie gemocht.“ | |
6 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Felix Lee | |
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