| # taz.de -- Debatte Eingreifen in Syrien: Der Fall Aleppos | |
| > Was in Syrien passiert, ist Staatsterrorismus. Der Westen muss handeln, | |
| > um Assad, Russland und Iran in Syrien endlich zu stoppen. | |
| Bild: Ignoranz in der Sache: Betroffenheit angesicht von Bildern im Westen | |
| Es gab eine Zeit, da dachten wir: Alles wird besser. Mit dem Ende der | |
| Sowjetunion 1991 war der Kalte Krieg Geschichte. Die früheren | |
| Sowjetstaaten, auch Russland, befanden sich in Übergang zur Demokratie. In | |
| der Europäischen Union fielen die Grenzkontrollen. Die digitale | |
| Globalisierung forcierte den Wandel durch Handel und die Demokratisierung | |
| durch neue partizipative Möglichkeiten für lokale Bevölkerungen. Zum ersten | |
| Mal seit der postkolonialen Neuordnung des Nahen Ostens gerieten auch die | |
| arabischen Diktaturen ins Wanken. | |
| Der Arabische Frühling erfasste von Tunesien aus Ägypten, Libyen und sogar | |
| Syrien. In Iran erhob sich eine „Grüne Revolution“, wenn sie auch | |
| scheiterte. Digitale Informationskanäle und neues zivilgesellschaftliche | |
| Bewusstsein schienen sich auch in ausgewiesenen Polizeistaaten wie Assads | |
| Syrien nicht mehr so leicht kontrollieren zu lassen. Im ganzen Land gingen | |
| 2011 aufgeklärte Syrer auf die Straße. Sie verlangten die Beendigung von | |
| Polizeigewalt, Folter, Willkür, Kleptokratie – und endlich demokratische | |
| Reformen. Der syrische Diktator ließ auf die Reformkräfte schießen. Doch | |
| die Revolution ließ sich nicht mehr aufhalten. | |
| In den Schulen – zumindest Westdeutschlands – lernten wir nach 1945, dass | |
| man als Individuum den Gehorsam verweigern muss, wenn Befehlshaber zur | |
| aktiven Teilhabe an Menschenrechtsverbrechen zwingen wollen. Nach dem | |
| Nationalsozialismus mit all seinen willigen Vollstreckern sollte es keine | |
| duckmäuserischen Ausreden mehr geben. Es besteht die Pflicht zu Desertion | |
| und Tyrannenmord, so die Herrschaft staatsterroristisch agiert. | |
| Das ist in Syrien der Fall. Assad versucht die oppositionelle | |
| Zivilbevölkerung seit 2011 physisch auszulöschen. Polizei und Armee | |
| schießen auf Unbewaffnete, lassen kleine Aktivisten, Professoren, Lehrer, | |
| Journalisten, Rechtsanwälte oder Feministinnen in geheimen Folterzentren | |
| verschwinden. Die Berichte aus diesen Mordkerkern erinnern an die | |
| Grausamkeiten der südamerikanischen Diktaturen in den 1970er Jahren. „Nunca | |
| más!“, „Niemals mehr!“, so der lautstarke internationale Protest damals. | |
| ## Sadismus und Folter sind Assads Insignien | |
| Und heute? Nicht wenige versuchen, die Verbrechen Assads kleinzureden und | |
| die Aktionen des syrischen Widerstands mit den Gräueltaten des IS | |
| gleichzusetzen. Sie ignorieren dabei die Genese der syrischen Revolution. | |
| Assad liefen im Jahr 2011 zuallererst die Soldaten davon. Viele Militärs | |
| weigerten sich, auf unbewaffnete Demonstranten zu schießen. Aus der | |
| Befehlsverweigerung entstand die Freie Syrische Armee. Die Deserteure | |
| hatten keine andere Chance, als gegen das Regime zu kämpfen. Wer in Syrien | |
| desertiert, wird nicht einfach nur standrechtlich erschossen. Sadismus und | |
| Folter sind die Insignien von Assads Herrschaft. | |
| Assads Strategie war es von Anfang an, den demokratischen Aufstand im | |
| Bürgerkrieg zu konfessionalisieren und somit zu delegitimieren. Er | |
| attackierte mit brutaler Rohheit die säkulare Massenerhebung, ließ die | |
| radikalen Islamisten hingegen zunächst gewähren. Diese konnten in die | |
| Gesellschaft einsickern und sich ausbreiten. Die Repression aus der Luft | |
| und zu Boden traf vor allen die säkulare Opposition. Die | |
| Konfessionalisierung war Assads Chance, sich international als Retter vor | |
| dem IS darzustellen. Und davon abzulenken, dass er und seine mörderische | |
| Herrschaft den Grund allen Übels in Syrien bilden. | |
| Im Westen hat dies verfangen und erklärt teilweise die zögerliche Haltung. | |
| Spätestens mit den IS-Anschlägen in Europa tendiert die Solidarität mit den | |
| um ihre Freiheit ringenden Syrern gegen null. Zwar gibt es zig Bücher, | |
| Dokumente, Filme und wissende Menschen im Exil, die vom Gegenteil sprechen, | |
| doch für viele der teilnahmslosen und ängstlichen westlichen Zuschauer sind | |
| die syrischen Widerstandskämpfer zuallererst Muslime und potenzielle | |
| Extremisten. Dabei werden die demokratischen Kräfte in Syrien in einen | |
| Zweifrontenkrieg zwischen harten Islamisten und Assad zerrieben. | |
| ## Verbrannte Erde und ethnische Säuberungen | |
| Putins Luftwaffe verfolgt in Syrien eine eliminatorische Strategie, die sie | |
| schon in Grosny und Tschetschenien praktizierte. Dennoch umfassen die | |
| Protestkundgebungen vor den russischen Botschaften in Europa kaum mehr als | |
| jeweils 1.000 Demonstranten. Die von den Aufständischen gehaltenen Städte | |
| werden in einer Politik der verbrannten Erde nach und nach ethnisch | |
| gesäubert. Die Bodentruppen dafür stellen vom Iran gesteuerte | |
| extremistische Schiitenmilizen, darunter die libanesische Hisbollah. | |
| Während westliche Außenpolitiker das Atomabkommen mit Iran als | |
| „Entspannung“ preisen, strebt die Mullah-Diktatur den Durchstich an die | |
| libanesische Mittelmeerküste an. | |
| Wir erleben in dieser Situation das politische Komplettversagen sämtlicher | |
| internationaler Gremien, von UNO, Weltsicherheitsrat, USA, Nato und | |
| Europäischer Union. Aber auch das Ende jeglicher Form eines humanistischen | |
| Internationalismus. Außer kleinen (heroischen) Organisationen wie Médecins | |
| Sans Frontières oder Adopt a Revolution dominiert massenhaft Ignoranz, was | |
| die massenmediale Betroffenheit angesichts der letzten Bildbotschaften des | |
| Widerstands aus Aleppo nicht wieder gutmachen kann. | |
| Russland, Iran und Assads Truppen haben gezielt Schulen und Krankenhäuser | |
| angegriffen, die zivile Infrastruktur in den aufständischen Gebieten | |
| zerstört. Giftgas eingesetzt, die Zivilbevölkerung ausgehungert, | |
| Hilfskonvois ausgebombt, Gefangene und sogar Kinder massakriert. Inzwischen | |
| dauert das Morden länger und fordert mehr Opfer als der Spanische | |
| Bürgerkrieg in den 1930er Jahren, der die Herzen vieler Menschen bis heute | |
| berührt – und der schließlich den Auftakt zum Zweiten Weltkrieg bildete. | |
| Die drängende Frage, die sich heute stellt, ist: Wie rational handeln | |
| Russland und Iran? Ist deren aggressive Machtpolitik Irrationalismus oder | |
| konsequentem Kalkül geschuldet? Ein Kalkül, das darauf setzt, dass der | |
| militärisch überlegene Westen an diesem Frontabschnitt schon nicht | |
| eingreifen und man von daher einen imperialen Erfolg davontragen werde. | |
| Würde man Letzteres annehmen, dann könnte eine ernsthafte militärische | |
| Drohung vonseiten des Westens die Aggressoren in Syrien mäßigen und | |
| weiteres Elend verhindern. Auch nach dem Fall Aleppos zählt jedes zu | |
| rettende Menschenleben. In Idlib und in den Kurdenprovinzen. Im Kampf gegen | |
| die Terrorbanden des IS darf die legitime syrische Opposition nicht länger | |
| geopfert werden. | |
| Heute, zum Jahreswechel 2016/2017, ist vom hoffnungsvollen Aufbruch nach | |
| Ende des Kalten Kriegs nicht mehr viel zu spüren. Die alte | |
| Blockkonfrontation ist einer neuen gewichen. Die Diktaturstaaten bekämpfen | |
| vehement jede Form der inneren Demokratisierung. Und im Westen reagieren | |
| die Bevölkerungen zunehmend mit Nationalismus und Abschottung. Die | |
| demokratische Umarmungsstrategie gegenüber Russland ist gescheitert. Die | |
| Europäische Union muss sich neu positionieren, wenn nicht neu erfinden. Um | |
| verbrecherische Regime wie das Assads in die Schranken zu weisen, bedarf es | |
| neben der politischen auch einer militärischen Komponente. Wer weiter | |
| zögert, Putins Russland oder Iran machtpolitisch Grenzen zu setzen, wird | |
| morgen noch entgrenztere Konflikte erleben. | |
| Angesichts von Ideologen wie Jürgen Todenhöfer, die derzeit wieder auf | |
| Promotour für Assad sind, sei hier die syrische Autorin Samar Yazbek | |
| zitiert: „IS und Assad sind die beiden verschiedenen Seiten ein und | |
| derselben Medaille.“ | |
| 17 Dec 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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