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# taz.de -- Kolumne Wirtschaftsweisen: Krämerseelen
> Verkaufshit Stilles Wasser aus der Türkei: Wie eine ukrainische
> Chefverkäuferin einen Lebensmittelladen im Wedding zum Brummen brachte.
Bild: Da ist echt was drin
Mahmoud Al-Zein, der „Pate von Berlin“, ein libanesisch-kurdisch-türkischer
„Drogenbaron“, wurde kürzlich wieder von einer Polizeirazzia überfallen.
Zuvor hatte man ihn bereits zu vier Jahren Haft im offenen Vollzug
verurteilt. Und davor hatte er wahllos Bäckereien, Cafés, Lebensmittelläden
usw. erworben, die er auf andere Namen überschrieb.
Die Läden wuschen zwar sein Schwarzgeld und schufen Arbeitsplätze für
Mitglieder seines „Clans“, aber nie klappte es mit dem Warennachschub, dem
Bezahlen von Stromrechnungen, Sozialabgaben und Steuern. Schlösser wurden
über Nacht ausgetauscht, Tageskassen verschwanden.
Für seinen Lebensmittelladen in der Soldiner Straße stellte Mahmoud
schließlich die Ukrainerin Lilli Brand als Verkaufsstellenleiterin ein. Sie
erzählt: „Am Anfang kamen nur wenige Kunden, es war ihnen alles zu teuer.
Das brachte mich auf die Idee, ein Plakat ins Schaufenster zu hängen: ‚Zur
Neueröffnung 50 % Rabatt auf Reis‘. Das interessierte die Leute. Einige
kauften gleich mehrere 5-Kilo-Säcke: Ich nahm an dem Tag über 800 Euro ein.
Ich dachte mir daraufhin etwas Neues aus: ‚Beim Kauf von vier Packungen
Halwa – zu 1.50 Euro – eine Packung umsonst‘. Auch das funktionierte.
Gewürze, Oliven und Tees, die mir zu teuer schienen, setzte ich ebenfalls
herab. Schon bald wollten die Kunden alles zu einem niedrigeren Preis
haben. Ich erklärte ihnen, dass es immer nur einige wenige Waren billiger
gebe. So mussten sie täglich nach Sonderangeboten vorbeischauen.
Nach zwei Wochen fing ich an, einigen Kunden Kredit zu geben, etwa einer
Jugoslawin, die täglich vorbeikam. Sie war bald meine Botschafterin: Sie
erzählte allen in der Soldiner, was es ‚bei der Russin‘ wieder Neues gebe.
Manchmal schleppte sie sogar eine ganzen Trupp Frauen an, die alle bei mir
einkauften.
Wenn viele Kunden auf einmal im Laden waren, verlor ich manchmal den
Überblick beim Abrechnen, zumal viele Frauen ihre Kinder mitbrachten, die
mich mit ihren Süßigkeitswünschen durcheinanderbrachten, während die mit
großen, weiten Gewändern angetanen Mütter irgendetwas einsteckten.
Zwar waren die Telefonnummern der Lieferanten verschwunden, aber die kamen
bald von selbst und brachten Fladenbrote, Joghurt, Milch, Butter, türkische
Wurst. Nur der Gemüsemann wollte mir nichts liefern, weil Mahmoud ihm noch
Geld schuldete und mir gesagt hatte, ich solle keine Außenstände
begleichen. Ich kaufte deshalb selber Gemüse beim Händler um die Ecke, das
ich dann etwas teurer verkaufte. Ich muss hinzufügen, dass auch ich mich
großzügig aus der Kasse bediente. Niemand kontrollierte mich oder die
‚Bücher‘. Ich nahm etwa 300 Euro am Tag ein.
Was ich am meisten verkaufte, war stilles Wasser in Flaschen aus der
Türkei. Selbst den ärmsten Soldinern war das deutsche Wasser aus der
Leitung nicht rein genug, deswegen kauften sie täglich mindestens einen
Sechserpack.
Mahmoud kam nur selten vorbei, und wenn, dann verschwand er gleich in
seinem Büro, wo er manchmal auch schlief. Einmal kam er mit seiner Frau und
seinen drei Kindern – und veranstaltete ein kleines Kinderfest vor dem
Laden.
Ich begleitete meine jugoslawische Dauerkundin Mara, die mir inzwischen ans
Herz gewachsen war und sogar Diebstähle im Laden verhinderte, an einem
Freitag in die Moschee, die sich gleich nebenan befand. Weil ich dafür
keine passende Bekleidung besaß, lieh sie mir ein grün-goldenes Kopftuch
und dazu ein langes dunkelgrünes Kleid mit arabischem Stickmuster. Mir war
anfangs etwas bange. Mara beruhigte mich: ‚Tu einfach alles, was auch die
anderen Frauen machen, ich bin bei dir.‘
Der Gottesdienst dauerte fast zwei Stunden, aber ich war – im Gegensatz zu
den alten Frauen um mich herum – schon nach einer halben Stunde so fertig
vom vielen Niederknien, dass ich nicht mehr hochkam. Und am nächsten Tag
hatte ich einen solchen Muskelkater, dass ich nicht zur Arbeit gehen konnte
und der Laden geschlossen blieb.“
27 Nov 2016
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Berlin-Wedding
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