| # taz.de -- Luther-Jubiläum in Wittenberg: Ungetaufte und Skeptiker | |
| > Religiös ist in Wittenberg kaum jemand. Das Lutherhaus ist dicht. Nicht | |
| > alle glauben, dass sie etwas von den Reformationsfestspielen haben | |
| > werden. | |
| Bild: 360-Grad-Panorama von Yadegar Asisi mit Motiven zur Reformation in Witten… | |
| LUTHERSTADT WITTENBERG taz | Auf dem Marktplatz von Wittenberg, über den | |
| bald Hunderttausende Touristen ziehen werden, stehen drei Männer. Sie | |
| trotzen dem Sprühregen, der die Stadt seit Stunden einweicht. Der bronzene | |
| Luther zeigt unverdrossen die Bibel vor, sein Mitstreiter Philipp | |
| Melanchthon hält eine Schriftrolle und Matthias Möbius wärmt seine Hände an | |
| einer Tasse. Bei Möbius gibt es „Luther-Tomaten“, das Kilo zu 3,80 Euro. | |
| Das Konterfei des Reformators, unter Folie, hat er mit Wäscheklammern an | |
| die Kisten geheftet. Doch Luther zieht nicht. | |
| Möbius späht zu den Renaissancegiebeln hinüber, als könnte er Menschen | |
| locken. Aber selbst Touristen lassen sich kaum sehen und wenn, dann huschen | |
| sie zur Stadtkirche hinüber. Möbius deutet auf Rote Bete, Kohlrabi, auf das | |
| ganze Erntedank. Am Rand stecken Himbeerwurzeln im Eimer. „Vermehren sich | |
| prächtig, schmecken süß“, sagt Möbius. Er zieht die Himbeerstöckchen | |
| auseinander. In die Erde gesteckt und los geht’s. Man könne sich vor | |
| Früchten dann bald nicht mehr retten. Wenn das mit Luther nur auch so | |
| ginge. | |
| Denn für den Reformator ist Wittenberg ein karger Boden. Darüber können die | |
| Touristen, die Kirchen, die Unesco-Welterbestätten nicht hinwegtäuschen. | |
| Anfang Oktober erst öffnete die Schlosskirche ihre Tür, wo der Luther am | |
| 31. Oktober 1517 seine Thesen gegen den Ablasshandel angeschlagen haben | |
| soll. Die Reformation nahm ihren Lauf. 499 Jahre später kommen die meisten | |
| Wittenberger ganz gut ohne Lutherbibel und Katechismus durchs Leben. | |
| Vielleicht 20 Prozent gehören überhaupt einer Konfession an, Katholiken und | |
| Muslime eingeschlossen. | |
| Mit dem Reformationsfest beginnen am letzten Oktobertag die | |
| 500-Jahr-Feierlichkeiten. Ende Mai 2017 werden sie mit einem | |
| Festgottesdienst in Wittenberg ihren Höhepunkt finden. 300.000 Christen | |
| sollen in die Stadt strömen, die selbst nur 45.000 Einwohner zählt. | |
| Laufkundschaft? Möbius winkt ab. „Touristen kaufen kein Gemüse“, auch | |
| nicht, wenn Luther draufsteht. „Die Wittenberger werden am wenigsten davon | |
| haben“, glaubt Möbius. Verschwendetes Steuergeld. | |
| ## Luther mit Joint, als Sprayer | |
| Für den Gärtner scheint die Werbekampagne der evangelischen Kirche nicht | |
| gemacht. „Reformation heißt, die Welt zu hinterfragen“ lautet der Slogan | |
| für den „Reformationssommer 2017“. Das Motto wird in einem Film | |
| visualisiert. Unter blauem Himmel und Schäfchenwolken fliegt die Kamera auf | |
| die Lutherstadt zu. Glaubt man dem Film, so war die Reformation eine Art | |
| Bürgerinitiative, ähnlich der Antiatomkraftbewegung. | |
| „Reformationsbotschafterin“ Margot Käßmann schwärmt von „Natur“ und | |
| „Spiritualität“, doch von Martin Luther ist keine Rede mehr. Stattdessen | |
| bekommt der Wittenberger Schwanenteich seinen großen Auftritt. Dort werden | |
| im nächsten Jahr Flüchtlingsboote schwimmen, aus denen Geflüchtete | |
| Spielgeräte bauen sollen. | |
| Torsten Zugehör immerhin ist mit Luther eingedeckt. Schon auf den Fluren im | |
| Neuen Rathaus schaut der Kirchengründer im Dutzend von den Wänden. Luther | |
| zeitgemäß mit Joint, als Sprayer, mit Kopfhörern. Im Büro grüßt ein 80 | |
| Zentimeter hoher Kunststoff-Luther und auf der Karte des „Lord Mayors“ von | |
| Wittenberg ist der kantige Schädel des Reformators gut zu erkennen. | |
| Zugehör, schwarzer Anzug, weißes Hemd, sportlich, sitzt in einem | |
| Clubsessel. Seit gut einem Jahr ist der parteilose Jurist | |
| Oberbürgermeister. Er soll die Einwohner durch das Jubiläum führen, die | |
| Getauften, die Ungetauften und die Skeptiker. | |
| 300.000 Besucher an einem Wochenende – wird dem Stadtoberhaupt nicht angst | |
| und bange? Der junge Referent, der mit am Tisch sitzt, muss lachen. Zugehör | |
| sagt: „Nö, nicht mehr.“ Die Organisation liege in den Händen der Kirche u… | |
| die habe reichlich Erfahrung mit Kirchentagen. Außerdem werde der große | |
| Festgottesdienst ja vor den Toren der Stadt gefeiert. „Wir brauchen ein | |
| gewaltiges Gottvertrauen“, sagt er dann doch. | |
| Kein Elitenprojekt soll es werden | |
| Das strahlt der 44 Jahre alte geborene Wittenberger auch aus. Entspannt | |
| erzählt Zugehör, wie die Stadt das Jubeljahr mit Töpfermarkt, Weinfest, | |
| Luthers Hochzeit, mit Tanz und Luftballons feiern und wohl auch ein | |
| bisschen erden will. Der Kirche ist daran gelegen. „Sie ist sehr bemüht, | |
| dass es nicht nur ein Elitenprojekt ist“, sagt Zugehör. | |
| Nur einmal, auf einen Vorfall im Juni angesprochen, wirkt der | |
| Oberbürgermeister angespannt. Da hatte sich ein Wittenberger | |
| Kleingartenverein geweigert, einen Mann mit libanesischen Wurzeln | |
| aufzunehmen. „Wir wollen keine Ausländer“, erklärte ein Vereinsvorstand. | |
| „Rassismus im Kleingarten“ titelte die Mitteldeutsche, überregionale | |
| Zeitungen zogen nach. Der Vereinsvorstand trat zurück. Die Sache beruhigte | |
| sich. Doch Zugehör ist auf der Hut. Solche Schlagzeilen kann die Stadt | |
| nicht brauchen. Heikel genug, dass im März 22,4 Prozent hier AfD gewählt | |
| haben. | |
| In der Schlosskirche, dem wohl berühmtesten Wittenberger Heiligtum, hallen | |
| Schritte. Mit Kameras durchmessen Touristen die Kirche. Das Geviert ist der | |
| Dreh- und Angelpunkt der lutherischen Welt. Bei der Wiedereinweihung der | |
| Schlosskirche war Königin Margarethe von Dänemark, Oberhaupt der dänischen | |
| Lutheraner, zugegen, als Gastgeschenk einen Altarbehang im Gepäck. Wie es | |
| heißt, hat sie selbst mit Hand angelegt. | |
| ## Ein Who is Who der Kirchenmänner | |
| Jetzt aber ist der Behang wieder fort. Nur zu Pfingsten und zum | |
| Reformationstag werde das Textil gezeigt, erklärt eine Dame bei der | |
| Aufsicht. „Das weiß ich von offizieller Stelle“, raunt sie. Irgendwie ist | |
| in der Kirche alles offiziell. Reformatoren – Juristen, Bischöfe und | |
| Rektoren, Theologen sowieso – blicken von den Säulen wie Heilige, andere | |
| sind in Öl gemalt, als Medaillons und in Glas gearbeitet. Lauter | |
| evangelische Helden. Es sind so viele, dass die EKD, die Evangelische | |
| Kirche in Deutschland, ein „Who’s who?“ herausgegeben hat, das die Taten | |
| der Kirchenmänner von Schottland bis Siebenbürgen – es sind fast nur Männer | |
| – würdigt. | |
| Der 88 Meter hohe Turm der Schlosskirche, seit 1892 mit wilhelminischer | |
| Pickelhaube, dominiert die Stadt und ragt immer wieder unvermittelt aus den | |
| Straßenfluchten auf. Am Mark räumt Matthias Möbius seine Ware zusammen. | |
| Gegenüber dringt Licht aus der „Adlerschänke“. Bereits Luther soll hier | |
| eingekehrt sein. Vor dem Eingang rauchen Männer mit Rauschebärten und | |
| parlieren auf Englisch. | |
| In Sichtweite schiebt Klaus Blümner seine Souvenirständer herein. Der | |
| Seniorchef des „Hauses der Geschenke“ verkauft kein Gemüse, trotzdem ist er | |
| unzufrieden. Wer ist bloß auf die Schnapsidee gekommen, gerade jetzt das | |
| Lutherhaus zu schließen? Erst Anfang März soll es wieder öffnen. Blümner, | |
| ein gebeugter Mann mit buschigen Augenbrauen, ist ein versierter Verkäufer. | |
| Jeden Morgen stellt er so viele Ständer auf die Straße, dass sich die | |
| Touristen wie Fischlein in Reusen verfangen und erst wieder freikommen, | |
| wenn sie einen Luther-Kühlschrankmagneten, ein Lutherbier oder einen | |
| Stoffbeutel „Wittenberg“ in den Händen halten. Aber wenn das Lutherhaus | |
| geschlossen ist? | |
| ## 40 Läden stehen leer | |
| Blümners Laden hat schon viele Luther-Festspiele erlebt. Das nächste Jahr | |
| ist für ihn ein doppeltes Jubiläum. 1867, zum 350. Jahrestag des | |
| Thesenanschlags, öffnete der Buchbinder Adolf Kimstädt ein Geschäft. Eine | |
| Sensation waren Fotografien der Lutherstätten auf Pappe gezogen, allererste | |
| Ansichtskarten. Zum Doppel-Jubiläum 2017 haben Kimstädts Nachfahren wieder | |
| eine Attraktion vorbereitet: einen blinkenden Automaten. Wer in das Ding | |
| zwei Euro einwirft, bekommt eine goldglänzende Münze, entweder mit der | |
| Schlosskirche oder der Lutherrose. Eigentlich sollte das Gerät die Straße | |
| schmücken, doch jetzt steht der Kasten eingezwängt zwischen Zeitungen und | |
| Ansichtskarten. | |
| „Manche Leute kennen unsere Sorgen nicht“, seufzt Karin Blümner. Wen sie | |
| meint, wird schnell klar. Der Sohn präsentiert ein Schreiben aus dem | |
| Rathaus, das das Aufstellen des Automaten untersagt. Alle drei Blümners | |
| sind aufgebracht. Was haben sie denn noch vom Reformationstamtam? Fast 40 | |
| Läden stehen leer. Mit etwa 6.000 Besuchern täglich rechne die Stadt im | |
| nächsten Jahr, hatte Bürgermeister Zugehör eben noch im Rathaus gesagt. 150 | |
| Busladungen. | |
| Trotzdem hat der Schuhladen nebenan aufgegeben und auch der alte „Kimstädt“ | |
| hat schon bessere Zeiten erlebt, wie Klaus Blümner einräumt. Kein Wunder, | |
| dass sich hinter dem Reformationsklimbim inzwischen auch Magazine finden | |
| mit viel nackter Haut. | |
| Der Seniorchef zieht ein Schlüsselbund aus dem Kassentisch, geht vor die | |
| Tür und deutet auf die hell leuchtenden Fenster gegenüber. „Da, Mäcgeiz hat | |
| meine ganze Schreibwarenabteilung kaputt gemacht.“ Blümner wendet sich ab. | |
| „Jetzt kommt 2017. Und dann schauen wir, was kommt.“ Sehr zuversichtlich | |
| klingt das nicht. | |
| 31 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Gerlach | |
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