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# taz.de -- Videokunst über Sachsen: Eine Anleitung zum Zuhören
> Der Dresdner Künstler Mario Pfeifer, der heute in Berlin und New York
> lebt, fragt mit einer Videoarbeit: Was ist los in Sachsen?
Bild: Mario Pfeifer, Videostill aus „#Blacktivist“, 2015
„Die CDU sollte sich weiter rechts orientieren. / Die AfD ist zutiefst
unsozial. / Wir wissen doch, wohin dieses völkische Denken geführt hat. /
Die wirklich teuren Flüchtlinge, sind Steuerflüchtlinge.“ – Im Sekundenta…
werden neue Zitate auf den Fußboden der Galerie für Zeitgenössische Kunst
in Leipzig projiziert. Kaum kommt man hinterher, sie zu lesen. Der Beamer
im Nacken wirft den eigenen Schatten auf den Zitatenteppich und macht zu
Beginn der Ausstellung „Explosion“ von Mario Pfeifer deutlich: Es geht ums
Hier und Jetzt.
Welche politischen Aussagen dringen derzeit über welche Kanäle zu uns
durch? In welchem Kontext werden sie veröffentlicht und: Wer entscheidet
darüber? Über die Kopfhörer, die es am Eingang gegen ein Passdokument gibt
– und dies ist keine kuratorische, sondern eine rein institutionelle Geste
–, tönt ein Jingle in Dauerschleife, der an die Seriosität von Nachrichten
tötende Hintergrundmusik erinnert.
Für seine erste umfassende Einzelausstellung ist der 1981 in Dresden
geborene Pfeifer nach Sachsen zurückgekehrt, nach Leipzig, wo er sein
Kunststudium bei Astrid Klein begonnen hatte. Es folgten Stationen in
Berlin, Frankfurt am Main und Los Angeles, inzwischen lebt er in Berlin und
New York. Sechs Videos aus den vergangenen sieben Jahren verdeutlichen nun
sein Kerninteresse: Menschen, ihr Verhalten in verschiedenen Gesellschaften
und die Frage: Was hält sie zusammen?
Zehn Wochen verbrachte er auf Feuerland, um dort lebende Yagan zu
porträtieren. Der Film läuft auf drei Leinwänden und kombiniert
Landschaftsaufnahmen mit Fotomaterial aus den 1920er Jahren, dazu kommen
aktuelle Aufnahmen von der Fließbandarbeit in einer lokalen
Meerestierefabrik, die einem Fischgeruch in die Nase treiben.
Pfeifers Arbeiten thematisieren Religion, Ideologie und immer wieder
Arbeit. Drei spirituelle Führer und deren Praxis in Brasilien stehen neben
einer jungen Inderin, die sich die Augen lasern lässt, um ihren Marktwert
zu erhöhen – je makelloser, umso höher die Mitgift.
## Die Grenziehung ist schwierig
Die Grenze zwischen Inszenierung und Dokumentation ist nur schwer zu
ziehen, vieles kommt im Gewand eines Musikvideos daher. Für ein solches
haben drei Rapper einen Text über die Lage in den USA verfasst, und Pfeifer
drehte parallel in einer Waffenfabrik. Seine Filme sind inhaltlich komplex
– dankbar blättert man durch das notizheftgroße Booklet, das nötiges
Kontextwissen liefert.
„In welcher Art und Weise kann diese spezifische Arbeitsweise des Künstlers
in der politischen Situation in Sachsen Anwendung finden?“, so fragt der
Ausstellungsbegleiter auf Seite drei. Pfeifer hat in der New York Times
zuerst von den Protesten in Dresden gelesen. Und nun, im September 2016,
eine Arbeit „Über Angst und Bildung, Enttäuschung und Gerechtigkeit,
Protest und Spaltung in Sachsen/Deutschland“ produziert.
Auf zwei Plasmabildschirmen sieht man nix als Köpfe. Talking Heads von
Frauen und Männern: Viermal so groß wie in real sitzen sie einem gegenüber
und reden. Über Pegida. Über den Osten und den Westen. Über
Selbstausbeutung. Über Tarifverträge. Darüber, dass 50 Stunden
Gemeinschaftskunde im Leben eines sächsischen Schülers zu wenig sind.
Darüber, dass die Sächsische Zeitung bewusst mit dem Pressekodex bricht und
die Nationalität von Straftätern nennt – auch um deutlich zu machen, dass
diese nicht nur aus dem Ausland kommen.
Neun engagierte Bürger hat Pfeifer zu einem je 80-minütigen Gespräch
gebeten und befragt: Wie sie sich heute an die Wende 1989 erinnern. Wie
sich Bürger bilden können. Welche Rolle die Medien spielen.
## Ohne Namen
Die Antworten sind ungeschnitten und erstaunlich präzise. Die Interviewten
hoch konzentriert – so wie man selbst. Pfeifer ist weder Dokumentarfilmer
noch Journalist noch politische Kommentarmaschine. Er ist Künstler, der
rezeptionsästhetische Entscheidungen, wie die, den Namen der
Interviewpartner nicht zu nennen oder nur seine eigenen Fragen
herauszuschneiden, wohlüberlegt hat. Wer da spricht, soll zweitrangig sein
– vielleicht erkennt man Autor und Psychoanalytiker Hans Joachim Maaz oder
Ex-Pegida Mitorganisator René Jahn. Wichtiger als die Person und ihr
Hintergrund ist das gesprochene Wort.
Und so sitzt man da und hört zu. Überlegt, auf welche Frage gerade
geantwortet wird. Schaut auf Haare, Ohrringe und schlechte Zähne. Schaut
manchmal weg, weil einem diese Köpfe einfach zu nahe kommen. Erschrickt
über so manchen Argumentationsverlauf. Freut sich, dass sich die ein oder
andere eigene Gehirnwindung in eine andere Richtung dreht, eigene Argumente
stärker und schwächer werden. Man will widersprechen oder zurückspulen, um
sich kluge Aussagen zu notieren. Über neun Stunden läuft die Arbeit – eine
physische Herausforderung, noch dazu weil die Galerie maximal sechs Stunden
täglich geöffnet hat. Auch deshalb wird Pfeifer das gesamte Material noch
online stellen.
Am Ende des Videoparcours sieht sich der Besucher wieder mit der auf den
Boden projizierten Zitatensammlung konfrontiert, die zu dieser
Neuproduktion gehört. Ein wenig arg didaktisch kommt sie im Gegensatz zum
Video daher, das es auch allein vermag, Gegenwart nebeneinanderzustellen
und so zu appellieren: daran, mediale Vermittlung kritisch zu hinterfragen.
Komplexität auszuhalten. Und vor allem: zuzuhören.
25 Oct 2016
## AUTOREN
Sarah Alberti
## TAGS
Videokunst
Schwerpunkt Pegida
Dokumentation
Sachsen
Inszenierung
Kunst Türkei
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Medienkunst
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