| # taz.de -- Puppen und Frauen: Fünf Jahre Weltmodell | |
| > Sein fünfjähriges Bestehen feiert das Bremer „Mensch, Puppe!“-Ensemble | |
| > mit einem Festival – und der Eigenproduktion „Zeit“ | |
| Bild: Claudia Spörri macht sich zur Sonne – Lynda Anne Cortis sorgt für kos… | |
| Ein großartiges Bild ist das: Claudia Spörri hängt die Metallreifen, die | |
| zuvor auf der Bühne liegend unterschiedliche Spielzonen markiert hatten, | |
| auf. Jetzt sind es drei konzentrische Kreise, die umeinander schwingen, | |
| sobald sie angestoßen werden. Und dort hinein, in den Mittelpunkt des | |
| kosmischen Mobiles, steigt jetzt Spörri selbst, macht sich zum Teil dieses | |
| metaphorischen Objekts – zur Sonne dieses Weltmodells. Sie wird also selbst | |
| zum Requisit. Und belebt es. Was wiederum genau eine Definition des | |
| Puppenspiels ist: Ein Objekt scheinbar zu beleben, um mit ihm etwas | |
| darzustellen, egal was, Puppen können ja alles sein, gerne auch etwas | |
| Abstraktes. So auch diesmal: „Zeit“ heißt die aktuelle Produktion – was | |
| könnte es Abstrakteres geben? – und sie verspricht „eine philosophische | |
| Attacke“. | |
| Mit der nimmt das Bremer Figurentheater „Mensch, Puppe!“, dessen | |
| Prinzipalin Spörri ist, seine Jubiläumsspielzeit in Angriff. Seit fünf | |
| Jahren nämlich existiert das kleine, auf Figuren- und Objekttheater | |
| spezialisierte Ensemble mit Spielstätte im Kontorhaus in der Schildstraße. | |
| In der Zeit hat es eine wiedererkennbare, eigenständige Handschrift | |
| entwickelt – deren charakteristisches Merkmal eine sehr explizit | |
| geschaffene Spannung zwischen menschlicher Performerin und künstlerisch | |
| gestalteter Figur, meist sind es Handpuppen, ist. | |
| Und seit 2011 hat man geschafft, sowohl im Erwachsenen- als auch im | |
| Kinder-Segment ein so eindrucks- wie anspruchsvolles Repertoire aufzubauen. | |
| Zu dem gehört eine mit rasant witzigen Flokatizottel-Puppen besetzte | |
| „Prinzessin auf der Erbse“ genauso wie „Gift“, eine viel mit Schatten u… | |
| Objekten arbeitende Dramatisierung der Mitte des 19. Jahrhunderts Europa | |
| erschütternden Geschichte von der Bremer Massenmörderin Gesche Gottfried. | |
| Oder die „Drei Einakter“ von Anton Tschechow: Mit denen gewann „Mensch, | |
| Puppe!“ 2015 immerhin den Publikumspreis der Hamburger Privattheatertage. | |
| Im Laufe des Herbst kommen noch „Oh wie schön ist Panama“ nach Janosch und, | |
| in Kooperation mit den Bremer Philharmonikern, „Peter und der Wolf“ neu | |
| dazu. Sergeij Prokofjews Werk wurde vor 80 Jahren uraufgeführt. Die | |
| Premiere am 30. Oktober wird das kleine Festival beenden, mit dem „Mensch, | |
| Puppe!“ seinen Geburtstag begeht – mit Gastspielen des Hermannshof-Theaters | |
| aus Wümme und des Hamburger Ambrella-Figurentheaters. | |
| Zum fünfjährigen Bestehen „Zeit“ als Thema aufzugreifen, das ist eine | |
| einleuchtende Programmentscheidung. Und es ist auch eine, die aus der | |
| Tradition der Sparte einleuchtet. Denn immer, wenn es darum geht, die ganz | |
| großen Fragen auf die Bühne zu bringen, nach dem Sein, dem All, dem Himmel | |
| und der Hölle – landet man beim Puppentheater. | |
| Es dient als Weltmodell bei Platon, als Machtmetapher bei Aristoteles und | |
| stets auch als Medium ästhetischer Reflexion. „Schon in der Antike | |
| erscheint das Puppentheater als Bild des menschlichen Lebens“, heißt es im | |
| großen „Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte“. Und das irrt sich | |
| nie. Das Besondere ist dabei, dass es gelingt, diese übermenschlichen | |
| Fragen auf ein handliches Format zu bringen, ihre Schwere zu vertreiben und | |
| sie sinnlich und spielbar zu machen. | |
| Und lustig. Auch, aber nicht nur durch die sehr schön ausgewählten Texte | |
| von Augustinus bis Ernst Jandl. Angeregt durch die Kurzgeschichte | |
| „Zeitkauf“ der Schweizer Autorin Gisela Widmer schicken Regisseurin | |
| Christiane Ahlheim und Dramaturgin Sibille Hüholt Spörri als eine | |
| klimakterialgestresste Mitvierzigerin auf die Bühne. Oder besser, sie | |
| lassen ihre weiße Handtasche, ihre namenlose Trägerin im Schlepptau, | |
| vorpreschen. | |
| Später wird Spörri aus dieser weißen Tasche eine Handpuppe ziehen, in der | |
| man das Bild der namenlosen Hauptfigur als alte Frau erkennen kann. Doch | |
| jetzt, zu Beginn, eröffnet sie dem Publikum, ihm seine Zeit stehlen zu | |
| wollen. Eine schöne Stunde. Zeit, die es eigentlich als Besucher eines | |
| Konzerts verbringen hätte wollen. Eines Konzerts von Looping Lynda. | |
| Looping Lynda ist keine Puppe. Wohl aber eine Kunstfigur, und zwar | |
| Bühnenfigur und einzige Protagonistin eines extremen Programms der Bremer | |
| Cellistin Lynda Anne Cortis. Bei dem begleitet die Musikerin sich selbst – | |
| dank Pickup, Verstärker und einer Loop-Station. Sie nimmt einzelne | |
| musikalische Phrasen auf und multipliziert sie elektronisch, kombiniert sie | |
| mit perkussiven Col-legno-Spieltechniken, legt ätherische Flageoletts | |
| drüber und lotet komplett abartige Geräusche aus. Immer wieder braust diese | |
| Solo-Performance bis zur Klanggewalt eines ganzen Cello-Orchesters auf. Und | |
| natürlich verlangt das superexakte Intonierung ebenso wie außerordentliche | |
| rhythmische Disziplin. | |
| Das fesselt mehr, als eine Bühnenmusik das eigentlich tun dürfte. Und genau | |
| deswegen, weil Lynda Anne Cortis so fantastisch Cello spielt, gelingt | |
| tatsächlich, was das Szenario behauptet: Spörris Performance tritt in eine | |
| nicht von vornherein entschiedene Konkurrenz zu Looping Lynda, ihrem Cello | |
| und ihrem Spiel. Will man denn wirklich der leicht irren und von | |
| Altersangst geplagten Hauptdarstellerin zuschauen, wie sie mit ihrer Puppe | |
| dialogisiert? Wäre es nicht schöner, wenn stattdessen der blühenden | |
| Virtuosin die Bühne überlassen würde – also der, oder nein, ihrer eigenen | |
| Jugend? | |
| Wer über Zeit spricht, muss den Mut haben, die eigene Vergänglichkeit | |
| mitzudenken. Und das tut dieser sehenswerte Abend, an der Grenze zur | |
| Grausamkeit schmerzhaft. Vielleicht ist hier genau der Punkt, wo das | |
| Puppenspiel notwendig wird: weil es die Fähigkeit der Spielerin verlangt | |
| und kultiviert, von sich selbst so weit zu abstrahieren, sich selbst so | |
| stark zu objektivieren, dass die eigene Verletzlichkeit überspielt und jede | |
| noch so philosophische Attacke überlebt werden kann. | |
| 7 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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