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# taz.de -- Bremer Wahlrecht wird repariert: Die Qual der Wahl
> Zu viele ungültige Stimmen, eine sozial nicht repräsentative Bürgerschaft
> – es gibt einiges zu verbessern für den Wahlrechtsausschuss.
Bild: Kumulieren, panaschieren, resignieren: Wählen in Bremen.
BREMEN taz | „Alle Bremischen Parteien verlieren zunehmend den Kontakt und
den Zugang zu den Nichtwähler-Milieus.“ Zu diesem alarmierenden Fazit kam
Robert Vehrkamp von der Bertelsmann-Stiftung in seiner Analyse zur letzten
Bürgerschaftswahl. „Als sozial prekär haben wir die Landtagswahl deshalb
bezeichnet, weil die sozial gespaltene Wahlbeteiligung zu einer krassen
Unterrepräsentation der sozial benachteiligten Milieus im Wahlergebnis
führt“, erklärt Vehrkamp weiter. Das Wahlergebnis sei damit sozial nicht
mehr repräsentativ.
Das hat gesessen, und zwar so sehr, dass sich nun ein neuer
Wahlrechtsausschuss mit der Frage beschäftigen wird, wie die große Zahl der
Nichtwähler künftig wieder erreicht werden kann.
„Was man an der letzten Wahl besonders sehen kann, ist: Reichtum wählt,
Armut nicht.“ So fasst es der Sprecher der SPD-Bürgerschaftsfraktion,
Matthias Koch, zusammen, der sich zugleich auch in Selbstkritik übt: „Das
war eine deutliche Kritik an der Politik, die wir alle machen.“ Die Leute
hätten nicht mehr das Gefühl, dass Politik ihnen etwas bringt, im
Gegenteil, das Grundproblem sei ein weitverbreitetes Misstrauen gegenüber
der Politik allgemein, so Koch weiter.
SPD-Fraktionschef Björn Tschöpe, der auch Vorsitzender des Ausschusses ist,
will näher an die Wähler heran. Sein Vorschlag: Wahlurnen auch in
Einkaufszentren aufzustellen, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. „Von der
Verlängerung der Wahlzeit bis hin zu unterschiedlichen Wahlorten, da muss
man Phantasie haben.“
Phantasie hat auch eine Gruppe von Schülern der Gesamtschule Ost
entwickelt: Die hat an alle Parteien einen Brief geschrieben mit der Bitte,
ihren Vorschlag im Wahlrechtsausschuss zu beraten. Darin schlagen die
Schüler eine einwöchige Wahlzeit direkt in den Schulen vor. Das habe den
Vorteil, so die Schüler, die Hemmschwelle gerade für junge Wähler zu
senken. Testwahlen an ihrer Schule hatten eine Wahlbeteiligung von 87
Prozent ergeben, das Interesse sei also da.
Auch die Bertelsmann-Stiftung empfiehlt Wahlwochen und Wahlurnen an allen
Bremer Schulen, denn: „Wer bei seiner ersten Wahl gewählt hat, bildet
frühzeitig eine Wahlgewohnheit aus und wählt auch später häufiger und
regelmäßiger“, erklärt Robert Vehrkamp. „Das ist eine echte Chance, vor
allem diejenigen Jugendlichen zu erreichen, in deren Elternhäuser schon
lange nicht mehr gewählt wird und in denen Politik keine Rolle mehr
spielt.“
Auch Björn Tschöpe ist begeistert von dem Vorschlag: „Das ist total
spannend und total innovativ.“ Ob und wie das organisatorisch hinzukriegen
sei, soll nun im Ausschuss beraten werden. Vehrkamp und sein Team sollen
bis Dezember einen Vorschlag erarbeiten, wie eine solche Wahlwoche in den
Bremer Schulen realisiert werden könnte. Die stellvertretende
Ausschussvorsitzende Kristina Vogt von den Linken formulierte es etwas
weniger euphorisch: „Wenn das der Landeswahlleiter personell und technisch
hinbekommt, warum nicht?“, sagte sie vorab der taz. Allerdings gebe es
unter Erstwählern eigentlich eine relativ hohe Wahlbeteiligung, die erst
mit Anfang 20 wieder sinke.
Und dann erreiche man sie über die Schulen auch nicht mehr. Sie gab
außerdem zu bedenken: „Wenn die dann mit Anfang 20 noch nie ein Wahllokal
von innen gesehen haben, ist das vielleicht auch nicht ideal.“ In der SPD
aber will man „jede Hürde senken, die man senken kann“, so sagt es Matthias
Koch.
Vehrkamp und sein Team haben einen Maßnahmenkatalog erarbeitet, der auch
die Einführung eines elektronischen Wählerverzeichnisses und den
automatischen Versand von Briefwahlunterlagen vorsieht. Über diese
Vorschläge will der Ausschuss weiter beraten.
Die außerdem geplanten Wahlrechtsänderungen betreffen die mögliche
Einführung einer landesweiten Fünf-Prozent-Hürde, Heilungswege bei
Auszählungsfehlern und die Umkehrung der Sitzverteilung: Bislang werden die
Sitze nach Listenwahl zuerst vergeben und erst danach die der Personenwahl.
Das aber führt dazu, dass die Parteien insgesamt weniger Einfluss darauf
haben, wer genau am Ende in der Bürgerschaft sitzt. „Wir sind ganz klar
dafür, dass man das umkehrt“, sagt SPD-Fraktionssprecher Koch. „Wir wollen
sicherstellen, dass am Ende ein möglichst repräsentatives Parlament
zustande kommt.“
Das hat beim letzten Mal in der SPD nicht ganz so gut geklappt: Trotz einer
quotierten Liste sind Frauen in der jetzigen Bürgerschaft
unterrepräsentiert. „In der Partei wird diskutiert, ob wir wieder so
antreten oder ob die Liste kürzer sein muss“, sagt Koch. Das hatte auch der
grüne Wahlrechts-Experte Wilko Zicht der SPD im Gespräch mit der taz
geraten. Er selbst wird indes seinen Sitz im Ausschuss nicht mehr
wahrnehmen: Nach seinem Mandatsverzicht nimmt vorerst sein Stellvertreter
im Ausschuss, Matthias Güldner, seinen Platz ein.
29 Sep 2016
## AUTOREN
Karolina Meyer-Schilf
## TAGS
Wahlen
Wahlrecht
Demokratie
Politikverdrossenheit
Gewerkschaft der Polizei GdP
Interview
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Studie
Bremische Bürgerschaft
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