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# taz.de -- Die Wahrheit: Abschied von der Tüte nach Maß
> Heimische Manufakturen für Plastiktüten darben, weil das Transportmittel
> seit Juli kostet. Besuch bei einem aussterbenden Beruf.
Seit Anfang Juli verlangt der Handel für Plastiktüten 10 oder 20 Cent.
Viele Kunden scheuen die ungewohnte Ausgabe und behelfen sich mit leeren
Kartons vom Discounter oder mehrfach verwendbaren Tragetaschen von zu
Hause. Seitdem geht es mit der hiesigen Plastiktütenindustrie bergab, die
Nachfrage sinkt rapide, die Umsätze brechen ein.
Etliche Mittelständler haben die Tütenproduktion schon gedrosselt oder
eingestellt und satteln auf Plastiktinnef wie Trendnudelsiebe oder
Fashion-Eierbecher um. Am schlimmsten trifft es jedoch die Inhaber kleiner
Manufakturen und spezialisierter Traditionsbetriebe, die noch auf wertiges
Handwerk setzen – sie müssen nun um ihre Existenz bangen.
Einer von ihnen ist Hartmut Hieronymus. Der 58-Jährige führt seinen
kunststoffverarbeitenden Betrieb im Schwarzwald in dritter Generation,
seinen letzten Angestellten musste er wegen der scharfen Konkurrenz aus
Fernost bereits vor Langem entlassen. In den vergangenen Jahren gelang es
ihm allerdings, eine Nische in dem hart umkämpften Markt zu besetzen, die
ihn und seine sechsköpfige Familie anständig ernährte – mit höchster
Fertigungsqualität, kompromissloser Liebe zum Detail und nur einem einzigen
exquisiten Produkt: der Plastiktüte in allen vorstellbaren Farben, Formen
und Designs.
Der Tag, an dem sich die deutschen Handelsketten mit dem Umweltministerium
auf eine Kostenpflicht für Plastiktüten verständigen, ist deshalb ein
rabenschwarzer Tag für Hartmut Hieronymus. Zum 1. Juli reduzieren viele
seiner Kunden, darunter Modeboutiquen, Feinkostläden und Musikalienhändler,
ihre Abnahmemengen drastisch.
## Hiobsbotschaften en masse
Während sich bei Hieronymus die unbezahlten Rechnungen türmen und die
schlaflosen Nächte stapeln, erreicht ihn schon die nächste Hiobsbotschaft:
Zugunsten von Papiertragetaschen verbannt die Rewe-Gruppe zum 1. August
sämtliche Plastiktüten aus all ihren Filialen, auch aus denen am
Starnberger See, im Vordertaunus und auf Sylt, die er bislang exklusiv mit
seiner Ware belieferte. Mit einem Schlag ist der Schwarzwälder
Kleinunternehmer seinen größten Kunden und damit 75 Prozent seines Umsatzes
los.
Trotzdem denkt Hieronymus nicht daran, aufzugeben. „Jetzt erst recht“,
knurrt der knorrige Mann. „Einer meiner Söhne soll den Betrieb schließlich
eines Tages übernehmen.“ Während sich Tränen in seinen Augenwinkeln
sammeln, führt er uns in das Halbdunkel einer holzgetäfelten Werkstatt. Der
charakteristische Geruch von angeschmortem Kunststoff liegt heimelig über
der alten Werkbank.
An der Decke darüber hängt säuberlich aufgereiht das Werkzeug – Nadeln,
Ahlen, Scheren, Lineale sowie Korkenzieher, wie man sie heute nur noch
selten zu sehen bekommt. An den Wänden lehnen Rollen mit Polyethylenfolie
unterschiedlichster Provenienz, teils in Versandverpackung und mit
Aufklebern aus fernen Ländern. In der angeschlossenen Druckerei wird zum
Teil noch auf uralte Handwerkstechniken wie Sieb- oder Kartoffeldruck
zurückgegriffen.
## Nur das Beste für die Tüte
Für Hartmut Hieronymus ist sie noch eine Kunst, die Herstellung von
Kunststofftüten: „Sagt ja auch schon der Name. Deshalb kommen mir nur die
erlesensten Rohstoffe in die Tüte.“ Seit jeher beschafft er sich die
Materialien für seine Qualitätsproduktion alle paar Wochen auf ausgedehnten
Auslandsreisen – in den Basaren Marokkos genauso wie in kleinen
Kunststoffminen im Hochland der Anden.
Vom Design her präferiert er klassische Formen, klare Linien, strikte
Funktionalität: „Ich bin da wohl eher vom skandinavischen Minimalismus
beeinflusst.“ Doch Hieronymus ist neugierig geblieben. Bei Reisen nach
London, New York, Mailand oder Mogadischu lässt er sich immer wieder neu
inspirieren. Das ist er seinem Ruf einfach schuldig.
„Meine Tüten sind 100 Prozent Handarbeit, das macht sie so besonders“,
erklärt der stolze Manufakturbetreiber. In jeder seiner Plastiktragetaschen
steckt die hingebungsvolle Arbeit von zwei Tagen, die selbstverständlich
ihren Preis hat. Den verrät Hieronymus potenziellen Kunden darum auch nur
auf Anfrage. Sein Tipp für anspruchsvolle Konsumenten: „An der Schweißnaht
erkennst du, ob es ein Einzelstück ist oder billige Massenware. Ob hier ein
ausgebildeter Handwerker mit Gefühl für das Material zugange war oder eine
ungebildete Maschinenkraft in einem anonymen Riesenbetrieb irgendwo in
China.“
Im Respekt vor dem Werkstoff und der Liebe zum aufwendigen Ergebnis sieht
Hieronymus den entscheidenden Unterschied – und eine winzige Chance fürs
Überleben seines Handwerks. Da darf es auch schon mal acht bis neun Stunden
länger dauern, wenn er sich in eines der Stücke verliebt hat und es sonst
nichts zu tun gibt.
## Kraft der Tradition
Zärtlich lässt der alte Mann seine runzlige Hand über die mattschimmernde
Kunststofffolie gleiten. „Marco Polo soll von seinen Reisen aus China
bereits einige wunderschöne Plastiktüten mitgebracht haben“, schwärmt er �…
„das ist die Kraft der Tradition, die in die Zukunft weist.“ Die
Schneidemaschine Marke Eigenbau hat der Meister von seinem Vater geerbt,
die Stanze, mit der die Griffe herausgeschnitten werden, entwickelte er
kürzlich selber, als er hörte, dass die handelsübliche Einheitsgröße vielen
seiner Kunden nicht angenehm in der Hand lag. „Customizing ist das Gebot
der Stunde“, sagt Hieronymus bescheiden. Seit Neuestem poliert er auch die
Griffkanten mit der Nagelfeile nach – für eine samtweiche Haptik.
Hartmut Hieronymus sprudelt über vor Ideen. In seinem Versuchslabor ersetzt
er Polypropylen aus Rohöl durch eigene Kreationen mit Olivenöl. Erste
Experimente mit Kürbiskern- und Mandelöl sind nicht gerade
vielversprechend, aber wenigstens hat es jemand versucht. Doch da ihm
langsam das Geld ausgeht, befürchtet Hieronymus, dass er bald auf den Trend
zur Billigware aufspringen oder aber seinen Schuppen zusperren muss. „Diese
vermaledeite Kostenpflicht für Plastiktüten könnte mir das Genick brechen“,
flucht der aufrechte Mann.
Zwar findet er einerseits gut, dass die Verordnung den Kunden ins
Bewusstsein ruft, dass Tüten überhaupt einen Wert haben – bislang wurde
dieser ja nur in die anderen Waren eingepreist. Andererseits graut ihm vor
dem drohenden Niedergang der bundesdeutschen Plastiktütenkultur: „Unsere
Enkel lernen dereinst vielleicht nur noch diesen fladderigen Tütenschund
kennen, wie man ihn umsonst an Gemüseständen oder beim Türken kriegt. Es
wäre eine Schande!“
## Wahnsinn Öko
Am meisten aber treibt ihn um, was das alles wieder an Arbeitsplätzen
kostet. „Dieser Ökowahnsinn muss gestoppt werden!“, ereifert sich der
stämmige Endsechziger. „Sonst werde ich arbeitslos oder kriminell oder
Protestwähler.“ Doch auch die Zukunft unseres Planeten liegt ihm am Herzen:
„Stellen Sie sich doch nur mal die Weltmeere vor, bedeckt von Kontinenten
aus Jute- oder Stoffbeuteln! Was wäre das für ein trauriger graubrauner
Anblick!“
Hieronymus ist sich sicher: Wenn die Bundesregierung den notleidenden
Handwerkern nicht zur Seite springt und üppige Subventionen ausschüttet,
ist Deutschland auf kurz oder lang ein Land, vollständig abhängig von
ausländischer Plastiktütenproduktion und damit erpressbar.
17 Sep 2016
## AUTOREN
Mark-Stefan Tietze
## TAGS
Plastiktüten
Handwerk
Wirtschaft
Zukunft
Plastiktüten
Medien
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Jugend
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