# taz.de -- Libyen, das Land der 2.000 Milizen: Kapitän Ashrafs Ohnmacht | |
> Bewaffnete Banden kontrollieren das Land. Die Bevölkerung fühlt sich | |
> ausgeliefert, die unsichere Lage trifft die vielen Flüchtlinge besonders | |
> hart. | |
Bild: Das Hafenbecken in Tripolis, wo Libyens Küstenwache den Mangel verwaltet… | |
TRIPOLIS taz | Am Morgen, als das Mittelmeer wieder Leichen von Migranten | |
an den Strand der Stadt Zuwara spült, stützt sich Kapitän Ashraf auf seinen | |
Schreibtisch. Er ist nur 30 Kilometer westlich vom Unglücksort, in Tripolis | |
– und Welten entfernt. Der Einsatzleiter der libyschen Küstenwache raucht | |
eine Zigarette nach der anderen, wirkt resigniert. Statt Menschenleben zu | |
retten und den Seeverkehr zu schützen, verwaltet er den Mangel. „Früher | |
unterstand die gesamte Küstenwache dem Kommando von Tripolis“, sagt er. | |
Jetzt sind es nur noch zwei Küstenabschnitte, die er befehligt. | |
Die Zersplittertheit Libyens im Jahr 2016 lässt sich im Kleinen hier auf | |
der Marinebasis von Tripolis besichtigen. Hier hat auch die Regierung von | |
Premierminister Fajes al-Sarradsch ihren Hauptsitz, von hier aus will sie | |
das Land einigen. Ein aberwitzig scheinendes Vorhaben, denn Libyen ist in | |
Myriaden kleiner und kleinster Milizen zersplittert. Und Sarradsch hat | |
keine Militärmacht hinter sich, er muss mit allen Akteuren verhandeln: ein | |
politisches Schneeballsystem. | |
Nur so kann er hoffen, die Fronten, die quer durchs Land verlaufen, zu | |
klären. Es sind nicht nur die Küstenstädte, die untereinander | |
konkurrieren, es sind auch die vielen Stämme, die ihre Interessen wahren | |
wollen. Bisher kontrolliert Sarradschs Regierung nur wenige, wenn auch | |
extrem wichtige Schlüsselstellen wie die Zentralbank, das Ölministerium und | |
das Büro des Ministerpräsidenten. Draußen, außerhalb der Mauern des | |
Stützpunkts, regiert das Chaos. | |
Schätzungsweise 2.000 Milizen gibt es in Libyen. Manche Gruppen sind | |
schlicht Banden von Straßenräubern, andere sind haben Tausende Soldaten | |
unter ihrem Kommando. Auch der IS ist in diesem Sinne eine größere Miliz, | |
die mit anderen islamistischen Milizen konkurriert. Wie die meisten Städte | |
des Landes ist auch Tripolis in Sektoren aufgeteilt, die jeweils von einer | |
Miliz dominiert werden. | |
## Jeder versucht zu verdrängen | |
Dort herrscht eine nervöse Normalität. Manche Geschäfte öffnen nur | |
gelegentlich ihre stählernen Rollladen, die Menschen hasten mehr, als dass | |
sie gehen, und niemand verbringt mehr Zeit, als er müsste, an einem Ort. | |
Alle versuchen zu verdrängen, dass überall Checkpoints, dass | |
Einschusslöcher an den Wänden sind, dass ganze Viertel unter einem | |
Generalverdacht leben, der von einem Moment auf den nächsten zu ihrer | |
Planierung führen kann. | |
Auch die Migranten, die Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Ländern | |
müssen dieses Szenario aushalten: Sie warten im Schatten oder in der Sonne. | |
Stundenlang, tagelang. Eine Million Ausländer leben schätzungsweise in | |
Libyen, das 7 Millionen Einwohner zählt. Unsichtbar für die Libyer – es sei | |
denn sie brauchen sie als billige Arbeitskräfte. Nur wenige Kilometer | |
abseits der Altstadt, deren Straßen mit Fotos der gefallenen Kämpfer gegen | |
Exdiktator Gaddafi geschmückt sind, finden sich Kreuzungen, an denen | |
Menschen aus ganz Westafrika auf eine kleinen bezahlten Job hoffen. | |
An diesem Tag warten etwa 50 Tagelöhner auf Stufen vor den Geschäften. Die | |
meisten von ihnen blicken trotzig oder gelangweilt auf vorbeifahrende | |
Autos. Sie wissen, dass sie als minderwertig angesehen werden – und dass | |
sie Freiwild sind. Jederzeit kann die Miliz, in deren Machtbereich die | |
Kreuzung liegt, eine Razzia durchführen: Um sie als illegale Migranten | |
festzunehmen und ihnen alles Geld abzuknöpfen. Wieder freizukommen, kostet | |
eine Summe, die kaum einer der zerlumpten jungen Männer aufbringen kann: | |
3.300 Euro – ihr Tagesverdienst liegt etwa bei 20 Euro. | |
## Bloß weg hier, sagen die Migranten | |
Keiner von ihnen will etwas sagen, verweist immer auf jemanden anderes, der | |
schon länger in Libyen lebt. Nach langen Verhandlungen traut sich doch | |
einer von ihnen, der 21-jährige Mohammed aus Mali: Er ist hier hergekommen, | |
weil es zu Hause im Bürgerkriegsland keine Arbeit gibt. Doch in Libyen sei | |
das Leben viel schwieriger, viel gefährlicher als gedacht. Mohammed deutet | |
auf die kleinen Hitachi-Pick-ups, auf die nach kurzen Verhandlungen immer | |
wieder Arbeiter aufspringen. | |
„Manchmal steigst du in ein Auto, das etwas später wieder hält“, sagt er. | |
„Dann zwingen sie dich mit vorgehaltener Waffe, mit einem Gewehr oder einem | |
Messer, all dein Geld und dein Handy rauszurücken.“ Dreimal sei ihm das in | |
den letzten zwei Wochen passiert. Deshalb nehme er jede Arbeit an, um Geld | |
für die Überfahrt nach Europa zu verdienen. Ob Häuser abreißen, Wohnungen | |
putzen, egal. Nur schnell hier weg. Das Meer sei bei Weitem nicht so | |
gefährlich wie das Leben in Libyen, glaubt er. | |
„Hier leben wir im Elend“, sagt Mohammed immer wieder. Manche seiner | |
Freunde würden sich sogar in der Kanalisation verstecken, aus Angst vor den | |
Milizen. Er selbst schläft mit vier anderen Maliern in einem Zimmer – 50 | |
Euro zahlt er im Monat dafür. Und für den Reis, den er sich als Mahlzeit | |
leisten kann, muss er 17 Euro zusätzlich zahlen. An einen Libyer, der so | |
mit der Vermietung einer Wohnung an 20 Arbeiter ein erhebliches Sümmchen | |
verdient. | |
## Das Geld versickert im Bürgerkrieg | |
Es sind Millionen US-Dollar, die mit den Migranten verdient werden – doch | |
auch dieses Geld scheint im Bürgerkrieg zu versickern. Städte wie Bengasi | |
und Derna sind zerstört, das Gesundheitssystem des Landes ist kollabiert, | |
Hunderttausende Binnenflüchtlinge versuchen ihren Lebensunterhalt zu | |
erbetteln. In Tripolis sind die Geldwechslerstübchen, die sich unter den | |
Arkaden des Suq Dahra befinden, für viele zur wichtigsten Institution | |
geworden. | |
Drei stämmige Männer warten hinter einem Tresen auf Kundschaft. Ab und zu | |
kommt jemand herein, schiebt US-Dollar über den Tisch. Dann beherrscht das | |
Rauschen und Knattern der Geldzählmaschine minutenlang den Raum, bevor der | |
Kunde brikettdicke Bündel von Dinar-Scheinen in Plastiktüten packt. „Der | |
Dinar ist nicht mehr viel wert“, sagt der Geldwechsler Ahmed Abdul Basr. Im | |
Stundentakt verändere sich manchmal der Wechselkurs, so volatil sei die | |
libysche Währung. | |
Gleichzeitig seien die Preise zu hoch, die Menschen würden schlicht nicht | |
genug verdienen. Das Gefühl der Verunsicherung führt dazu, dass die | |
Menschen ihr Bargeld zu Hause horten. Niemand traut mehr den Banken. | |
„Neulich kam eine ältere Frau verzweifelt zu uns. Sie bat uns, ihren | |
Gehaltsscheck einzulösen! Aber das können wir natürlich nicht!“, sagt er. | |
Die Frau hatte kein Geld mehr gehabt, schließlich bettelte sie – da haben | |
ihr die Geldwechsler privat etwas gespendet. | |
## „Es gibt keine echte Polizei“ | |
„Eine echte Polizei gibt es ebenso wenig wie Gerichte“, sagt Abdul Basr, | |
„die Polizeiwachen sind nur Attrappen, sie unterstehen den Milizen.“ Die | |
Geldwechsler haben sich mit anderen Händlern zusammengetan, um eine private | |
Polizeitruppe zu bezahlen. Trotzdem umstellen oft schwerbewaffnete Milizen | |
das Areal, um die Wechselstuben zu plündern. Der Vorwand: Sie seien für die | |
finanzielle Misere verantwortlich. | |
Zwar hat die Zentralbank in Tripolis mittlerweile in London neue | |
Geldscheine im Millionenwert drucken und einfliegen lassen, doch das Geld | |
verschwindet in dunklen Kanälen. Es gelangt nicht zu den normalen Libyern. | |
„Das ist das große Geheimnis, das wir nicht verstehen“, sagt Abdul Basr. | |
Hinzu kommt, dass die Gegenregierung im Osten eine eigene Zentralbank | |
aufgebaut hat, die eigene Geldscheine im Russland hat drucken lassen. Auch | |
hier spaltet sich das Land immer weiter – und der Machthaber im Osten, | |
General Haftar, macht keine Anstalten, auf die neue Regierung zuzugehen. | |
An der Wand hinter Kapitän Ashraf hängt eine nautische Karte des | |
Mittelmeers, hergestellt von der britischen Marine. Und ein kleiner Wimpel, | |
mit Tesafilm an der Wand befestigt. Sein Bürocontainer bildet zusammen mit | |
zwei weiteren Containern das Hauptquartier der libyschen Küstenwache. Wenn | |
Ashraf aus der Tür tritt, blickt er auf das Hafenbecken, in dem einige | |
libysche Marineschiffe dümpeln. Neben ihnen rostet das Wrack der Fregatte | |
„Al Ghardabia“ vor sich hin, die 2011 von der Nato versenkt wurde. | |
## Keine Technik vorhanden | |
Ashraf weist auf ein Schlauchboot im Hafenbecken: „Davon haben wir gerade | |
mal sechs Stück.“ Es hat eine Reichweite von fünf Seemeilen – aber um | |
Menschen zu retten, würden sie auch ihr eigenes Leben riskieren und 30, 40 | |
Seemeilen aufs offene Meer rausfahren, sagt der Kapitän. Auf seinem Handy | |
zeigt er ein Video einer solchen Rettungsmission: Dutzende Menschen drängen | |
sich auf dem Boot, das gerade mal für 20 gebaut ist. „Um die | |
Schiffbrüchigen vor dem Ertrinken zu retten, haben wir 60 Menschen auf | |
jedes unserer Boote geladen.“ Die Küstenwache hat keine Technik, um den | |
Seeverkehr zu überwachen. | |
Wenn das Wetter gut sei, wenn die Schleuser wieder Flüchtlinge auf Boote | |
setzen, können sie nur verstärkt Patrouille fahren. Und hoffen, dass | |
Anwohner, die die Menschenschmuggler am Strand beobachten, ihnen einen Tipp | |
geben. Selbst wenn sie wüssten, wo die Schleuser ihre Hauptquartiere haben, | |
könnten sie nicht gegen sie vorgehen, sagt Ashraf frustriert. Denn die | |
Milizen, die mit den Schleusern des Profits wegen zusammenarbeiten, seien | |
schwer bewaffnet: von der AK47 bis zur Boden-Luft-Rakete. | |
Premierminister Sarradsch hat nicht viel Zeit, das Land zu einen. Er ist | |
die letzte Hoffnung der Libyer, er ist die einzige Hoffnung der Europäer, | |
die sich vor dem IS und den vielen Flüchtlingen fürchten. Ob ihm das | |
gelingen kann, weiß auch Kapitän Ashraf nicht, er sieht nur, wie ungeduldig | |
die Menschen werden. Kein Wunder, schließlich wissen die meisten nicht | |
mehr, wovon sie leben sollen. „Meine Leute verdienen nur 250 US-Dollar im | |
Monat“, sagt er, „frag sie mal, wann ihnen das zum letzten Mal Lohn | |
ausgezahlt wurde.“ | |
19 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Alexander Bühler | |
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