# taz.de -- Türkische Wirtschaft nach dem Putsch: Die Geschäftsreise ist abge… | |
> Schon vor dem Putschversuch gingen die Investitionen aus der EU zurück. | |
> Die Rechtsunsicherheit vergiftet nun das Geschäftsklima. | |
Bild: Der Hafen von Izmir ist bislang ein Umschlagplatz für internationale War… | |
Berlin taz | Eigentlich wollte er in diesen Tagen in die Türkei fliegen. | |
Doch die Vorstellung verursachte Enrico Rima schlaflose Nächte. Immer | |
wieder fragte sich der Geschäftsführer der Berliner Textilfirma | |
Lebenskleidung, ob er seinen Produzenten in Izmir besuchen sollte oder | |
nicht. Der 35-Jährige beschloss, nicht zu reisen. Die Reaktion des | |
türkischen Staats auf den Putschversuch könnte der Anstoß sein, dass sich | |
Lebenskleidung aus dem Land zurückzieht. | |
Das von Rima und zwei Partnern gegründete Unternehmen lässt in einer Fabrik | |
bei Izmir Ökostoffe für Bekleidung herstellen. „Die Lage in der Türkei ist | |
erschütternd“, sagt Rima. „Wir wollen das nicht unterstützen.“ Rima | |
fürchtet, dass seine Firma das zumindest indirekt tut, wenn sie dort | |
produzieren lässt. „Ich könnte es mir leicht machen und einfach sagen: Ich | |
will mit diesem autokratischen Regime nichts zu tun haben, und einfach | |
gehen“, sagt er. | |
Aber er fühlt sich seinem türkischen Lieferanten verpflichtet. Mit ihm | |
verbinden er und seine Partner mittlerweile viel Persönliches. Beide Seiten | |
haben gemeinsam ökologische Produktionsverfahren entwickelt, sie sind | |
zusammen groß geworden. Die Berliner werden zur Hochzeit des Sohnes | |
eingeladen. „Ich bin in einem echten Dilemma“, sagt Rima. Mit seinen | |
zwiespältigen Gefühlen steht der Berliner nicht allein. | |
„Die Ereignisse in der Türkei erhöhen die Unsicherheit bei den deutschen | |
Unternehmen“, sagt Volker Treier, Außenwirtschaftschef des Deutschen | |
Industrie- und Handelskammertags (DIHK). „Die meisten Geschäftsreisen und | |
Delegationen werden mittlerweile abgesagt“, sagte er. „Geschäftsanbahnungen | |
werden folglich immer schwieriger.“ Immer mehr deutsche Unternehmen halten | |
sich bei Neuinvestitionen in der Türkei zurück, beobachtet Treier. | |
## „Säuberungen“ in Unternehmen | |
Die politische Krise in der Region, der Krieg in Syrien und der Kampf gegen | |
die Kurden im Osten der Türkei, hat längst auf die Wirtschaft | |
durchgeschlagen. Der Aufschwung der frühen Edoğanjahre wurde mit Kapital | |
aus dem Ausland finanziert. Das fließt nach dem Putschversuch verstärkt ab, | |
was die Wirtschaft weiter unter Druck setzt. | |
Und das Unbehagen wächst: Erst am Donnerstag kündigte Präsident Erdoğan an, | |
gegen alle Unternehmen vorzugehen, die Verbindungen zur Gülen-Bewegung | |
haben. Diese stecke hinter dem Putschversuch und sei besonders stark auch | |
im Wirtschaftssektor vertreten. | |
Die Ratingagentur Standard & Poor’s sieht die Türkei mittlerweile als | |
Hochrisikoland an – was den Rückzug ausländischen Kapitals weiter | |
beschleunigen wird. „Wichtig ist, dass die Türkei sich dauerhaft zu | |
rechtsstaatlichen Prinzipien bekennt. Nur so kann das Vertrauen von | |
Investoren, aber auch der Ratingagenturen langfristig zurückgewonnen | |
werden“, sagt DIHK-Mann Treier. Deutschland ist für die Türkei der | |
wichtigste Handelspartner – auch wenn China mehr in die Türkei liefert. | |
Viele große deutsche Konzerne wie Mercedes oder Siemens lassen dort | |
produzieren, aber auch kleinere Unternehmen wie die Firma Lebenskleidung, | |
die sieben Angestellte in Deutschland hat. | |
Aufgrund der Zollunion zwischen der EU und der Türkei müssen für die | |
meisten Waren keine Zölle gezahlt werden. Firmen aus der Bundesrepublik | |
investieren viel Geld, wenn auch mit rückläufiger Tendenz. Im Jahr 2015 | |
lagen ihre Investitionen bei rund 340 Millionen Euro, 2014 waren es noch | |
540 Millionen Euro. | |
## Hoffnung auf Stabilisierung | |
Bülent Tulay, Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Wirtschaftsvereinigung, | |
gibt sich trotz allem entspannt: „Wir rechnen nicht mit einer Erosion der | |
wirtschaftlichen Beziehungen aufgrund der aktuellen Lage“, sagt er. Dass | |
die EU Sanktionen gegen die Türkei verhängt, wie gegen Russland, ist für | |
Tulay unvorstellbar. „Damit würde die Türkei aus einem internationalen | |
Netzwerk herauskatapultiert“, sagt er. Doch auch Tulay beobachtet, dass es | |
etlichen Geschäftsleuten geht wie Enrico Rima: Sie scheuen Reisen in die | |
Türkei. Das wird nicht lange so bleiben, glaubt Tulay. „Die Türkei wird | |
ihre Brückenfunktion in den Nahen Osten behalten“, sagt er. | |
Die Wirtschaftsförderer der türkischen Regierung versuchen die Wogen zu | |
glätten. „Die Türkei befindet sich in einer Sondersituation, aber sie | |
bleibt für deutsche Unternehmen ein interessanter Partner“, sagt | |
Wolf-Ruthart Born von der Wirtschaftsförderungsagentur Investment Support | |
and Promotion Agency of Turkey (ISPAT), die dem türkischen | |
Ministerpräsidenten untersteht: „Die deutschen, aber auch die türkischen | |
Unternehmen warten jetzt erst einmal ab.“ | |
Born, der von 2009 bis 2011 Staatssekretär im Auswärtigen Amt war, hält die | |
nächsten 30 Tage für entscheidend. „Die Wirtschaft braucht Stabilität und | |
die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze.“ | |
## Schmerzgrenze | |
Enrico Rimas „Schmerzgrenze“ war allerdings schon vor dem Putsch | |
überschritten, sagt er. Mit Befremden hat er in den vergangenen Jahren die | |
zunehmende Repression gegen Journalisten und Oppositionelle beobachtet. | |
Seine Firma hat im Jahr 2010 angefangen, in der Türkei produzieren zu | |
lassen. Die Konditionen seien gut, Lohnkosten niedrig. Die Baumwolle aus | |
fairem Handel für die Biostoffe wird im Land angebaut, der Produzent hat | |
sich auf die Bedürfnisse der deutschen Firma bestens eingestellt und | |
arbeite nach dem internationalen Global Organic Textile Standard (GOTS). | |
Dieser stelle sehr gute ökologische und soziale Bedingungen entlang der | |
Produktionskette sicher; auch Rimas eigene Firma arbeitet mit diesem | |
Standard. | |
In der Strickerei und Färberei in Denizli bei Izmir arbeiten rund 300 | |
Menschen. Der Produzent ist Mitglied der CHP, der sozialdemokratischen | |
Partei, und nicht etwa in der Regierungspartei AKP. „Wen bestrafe ich, wenn | |
ich weggehe?“, fragt Rima. | |
Rimas Firma hat – allerdings nicht aus politischen Gründen – vor Kurzem | |
begonnen, auch in Portugal produzieren zu lassen. Dort wird ein neues | |
Verfahren ausprobiert. Die Geschäftsbeziehungen dorthin sind | |
unkomplizierter, weil Portugal EU-Mitglied ist. Die gesamte nächste | |
Kollektion könnte dort hergestellt werden. | |
Doch Rima hofft, dass sich die Lage in der Türkei bessert und sich diese | |
Frage nicht stellt. „Erdoğan muss einlenken, damit die Wirtschaft nicht | |
völlig einbricht“, sagt er. Drei Monate wollen er und seine Partner | |
abwarten, bis sie sich fürs Bleiben oder Gehen entscheiden. Rima: „Wenn es | |
nicht besser wird, haben wir einen Plan B.“ | |
6 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Anja Krüger | |
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