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# taz.de -- Robert Habeck über deutsche Bräsigkeit: „Wir haben es verlernt …
> Was tun, wenn Wutbürger lauter werden? Der Spitzengrüne plädiert für
> republikanisches Bewusstsein – und sieht die Chance für Schwarz-Grün
> schwinden.
Bild: „Wir können uns kommode Bräsigkeit nicht mehr leisten“, sagt Robert…
taz: Herr Habeck, mein Eindruck ist: Ängste machen wieder stärker
Politik. Wie sehen Sie das?
Robert Habeck: Ich stimme zu. Ich erlebe in meinem politischen
Alltag eine sehr konkrete Furcht vor Veränderung. Menschen sagen
Nein zu Windrädern, Nein zu Naturschutzgebieten, sogar Nein zum
Rückbau der Atomkraftwerke. Ein bisschen mehr Ja wäre gut in
Deutschland.
Woran liegt es, dass Mut zur Mangelressource wird?
Das hat viel mit Psychologie zu tun. Unsere Gesellschaft wird älter,
sie hat Angst vor Neuem, vor der Globalisierung, der
Digitalisierung. Wir sind weniger wagemutig und scheuen aus
Angst vor Fehlern Entscheidungen – auch in der Politik. Wir kommen
aus einer Phase der Selbstentmündigung und Stagnation.
Sie meinen die saturierten Merkel-Jahre?
Ich zeige nicht mit dem Finger auf Angela Merkel persönlich.
Irgendwie wünschten wir es uns ja so, dass Politik unspektakulär
ist, dass alles alternativlos läuft, weil es auch herrlich bequem
ist. Dadurch haben wir es aber verlernt zu streiten.
Wie bitte? Die AfD formuliert Meinungen, die vor ein paar Jahren
unsagbar waren – und im Netz tobt ein Wirbelsturm.
Genau. Jetzt gibt es viel Raum für laute Wutbürger und eine breite,
stille Resignation. Beides ist gefährlich, beides sucht keine
Antworten. Es muss doch umgekehrt laufen. Differenzen und
Konflikte benennen, aushalten, eine Lösung finden.
Wir brauchen also eine Politisierung des Politischen?
Genau. Wir können uns diese kommode Bräsigkeit nicht mehr leisten.
Ungerechtigkeit, scheiterndes Europa, die Notwendigkeit, anders
zu wirtschaften – wir müssen nach vorne gehen. Progressive Politik
muss den Menschen erklären, dass Renationalisierung und
Klaustrophobie ihnen eben nicht mehr Sicherheit geben werden.
Die Grünen haben in der Flüchtlingspolitik Merkel lange offensiv
gelobt. Verantwortet auch Ihre Partei den Mangel an klugem Streit?
Angela Merkel hat sehr lange eine humanistische Position gegen
die Demütigungen der CSU durchgehalten. Das hat auch mir
imponiert. Es war voll okay, ihr den Rücken zu stärken …
Die Grünen haben sich hinter Merkel geduckt, weil sie selbst keine
besseren Antworten wussten.
Das ist etwas sehr zugespitzt. Aber auch nicht völlig falsch.
Wo war der prominente Grüne, der forderte, ein paar Hunderttausend
Flüchtlinge legal einzufliegen?
Das Asyl, das wir so verteidigen, kann man erst in Europa
beantragen. Das treibt Flüchtlinge unter Lebensgefahr aufs
Mittelmeer und finanziert die Schleuserbanden. Und diejenigen,
die kein Geld, keine sozialen Netzwerke oder nicht genug Bildung
haben, bleiben im Krieg zurück. Die Alternative wären Visa und
Resettlement-Plätze für Europa, die aber schon in den
Nachbarländern der Krisenregionen geprüft und vergeben werden.
Auch das bringt Fragen, Probleme und Härten mit sich, aber so wie es
ist, ist es doch nicht gut.
Seit wegen der Grenzschließungen in Europa nur noch wenige
Flüchtlinge in Deutschland ankommen, ist das Thema kaum noch präsent.
Kehren wir in die Wohlfühlzone zurück?
Ja. Wir diskutieren das schon wieder im Modus der Komfortzone – und
stellen uns der Frage, wie ein humanes Europa unter den Bedingungen
großer Fluchtbewegungen wirklich funktionieren kann, nicht
ernsthaft. Dabei hat sich die Lage in und um Syrien null verbessert.
Die Entscheidung, Tunesien, Marokko und Algerien zu sicheren
Herkunftsstaaten zu erklären, wird im Bundesrat wohl erneut
verschoben. Stoppen die Grünen dieses Gesetz?
Wir haben der Bundesregierung ein anderes Konzept vorgeschlagen.
So lange sie aber auf dem falschen Instrument beharrt, kann ich mir
nicht vorstellen, dass die grün mitregierten Länder ihr
mehrheitlich folgen.
Einen Deal mit der Bundesregierung nach der Sommerpause schließen
Sie aus?
Lösungen gibt es – aber nur jenseits der Ausweitung der sicheren
Herkunftsländer. Wir wollen schnelle und gleichzeitig faire
Verfahren, damit es für alle früh Klarheit gibt. Aber die
Bundesregierung konnte nicht ausräumen, dass im Maghreb
politische Verfolgung, unmenschliche oder erniedrigende
Behandlung stattfindet.
Die Grünen haben bisher alles, was Merkels Koalition wollte, im
Bundesrat abgesegnet. Woher kommt plötzlich der Revoluzzergeist?
Es ist der gleiche Geist, der beim letzten Asylkompromiss zur
Zustimmung geführt hat. Wir schauen uns die Situation konkret an
und machen konkrete Vorschläge. Es stimmt übrigens nicht, dass die
Grünen überall zustimmen. Bei den Flüchtlingen, der Energiewende
oder beim Fracking, selbst bei der Erbschaftsteuer haben wir ja nicht
abgenickt, was die Koalition uns vorgesetzt hat, sondern viele
Verbesserungen durchgesetzt.
Ist ein klares Nein vielleicht manchmal sehr konstruktiv?
Nur dann, wenn das Nein auch ein Angebot für ein Ja enthält.
Das Herkunftsstaaten-Gesetz ignoriert Menschenrechte. So was zu
verhindern, ist nichts Schlechtes.
Die sicheren Herkunftsländer werden zu allem Möglichen
umfunktioniert. Das zu lösende Problem in diesem Fall ist, dass
Marokko, Tunesien und Algerien die Menschen, die abgeschoben
werden müssen, gar nicht zurücknehmen. Und dass alle Menschen, die
aus Not und Elend nach Deutschland wollen, Asyl beantragen müssen,
weil es keine andere Möglichkeit für sie gibt.
Wie sähe Ihre Antwort aus?
Ich bin für ein Einwanderungsgesetz, das Menschen jenseits von Asyl
eine faire, legale Chance gibt.
Nicht sehr originell. Das will sogar Herr Tauber von der CDU.
Warum machen sie es dann nicht? Einwanderung zu ermöglichen und zu
organisieren heißt allerdings auch, zu entscheiden, wer kommen
darf und wer nicht.
Warum muss man Grenzen ziehen?
Türen zu öffnen heißt nicht, sie rauszureißen. Das wäre
Kontrollverlust und höhlt die Legitimität staatlichen Handelns
aus. Aber die Türen aus Angst zu schließen, hieße sich dem Frust über die
Demokratie, der Verrohung und den Angstmachern zu beugen. Das
müssen wir kontern.
Wie?
Durch republikanisches Bewusstsein. Das müssen wir verteidigen.
Deutschland ist ein offenes, liberales und entspanntes Land
geworden. Und diejenigen, die es eng und ängstlich machen, sprechen
nicht für es. Sich zu trauen, das zu sagen, das ist die neue Rolle der
Grünen. Wir dürfen uns nicht auf den Wettlauf der Hasenfüße
einlassen.
Apropos Wettlauf. Sie wollen Spitzenkandidat im
Bundestagswahlkampf werden und damit …
Jetzt kommt’s.
… Minister im nächsten Kabinett Merkel. Sagen wir: Superminister
für Energie, Wirtschaft und Umwelt.
(Lacht) Darf ich darauf hinweisen, dass CDU, CSU und Grüne derzeit
zusammen nur 45 Prozent hätten? Genau so viel wie Rot-Rot-Grün …
Wie sehen Sie die Grünen im Wahlkampf 2017?
Mutig, kampfeslustig, optimistisch. Noch eine Partei, die die Hosen
voll hat, braucht kein Mensch. Wir waren früher eine Protestpartei,
heute sind wir die neue Orientierungspartei.
Ja nun. Orientierung geben, das wollen doch alle.
Wollen und einlösen sind aber zwei paar Stiefel. CDU und SPD
vertüdeln sich in Selbstwidersprüchen. Sie können nicht mehr
erklären, was eigentlich gerade passiert.
Haben Sie eigentlich den Eindruck, dass die schwarz-grüne Option
einen guten Lauf hat?
Mir egal. Alle Parteien wissen, dass sie 2017 vielleicht mit Partnern
regieren müssen, die sie sich nicht unbedingt ausgesucht hätten.
Entscheidend ist für die Grünen, ob das zur strategischen
Unterwerfung führt, oder ob man als freie Menschen Bündnisse
verhandelt.
Die AfD wächst, die CSU radikalisiert sich. Wie sollen Grüne da mit
der Union regieren?
Sie haben recht. Die reaktionären Kräfte in der Union gewinnen
Oberwasser. Aber von mir aus hören wir auf mit Malen nach
Zahlen-Farbspielchen, sondern reden wieder über Politik.
Die Farbenspielchen definieren, wie sehr und in welche Richtung die
Grünen die Gesellschaft ändern wollen.
Das wäre ein rein taktisches Verständnis von Politik. Es hieße, dass
wir uns als Partei nicht mehr selbst definieren.
Wofür stünde das Projekt Schwarz-Grün aus Ihrer Sicht?
Sie geben nicht auf, oder? Schwarz-Grün ist kein Projekt. Die Zeit der
Grünen als Projektpartei ist genauso vorbei wie die Zeit als
Protestpartei.
Dann anders: Was wäre der Reiz von Schwarz-Grün?
Vielleicht, dass sich die CSU von der CDU abspaltet … Soll ich jetzt
anfangen, Spiegelstriche aufzuzählen?
… der wichtigste reicht.
Der Klimaschutz ist entscheidend. Allerdings nicht als
Nischenthema in einem Ministerium, sondern als politischer
Ansatz, der sich durch alle wichtigen Bereiche zieht – von der
Energie- über die Verkehrs- und Agrarpolitik bis zur
Außenpolitik.
Und die Union macht mit? Ernsthaft?
Wollen wir ernsthaft weiter Ölheizungen fördern und den
Wahhabismus in Saudi-Arabien finanzieren? Es gibt Alternativen.
6 Jul 2016
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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Lesestück Interview
Schwerpunkt Angela Merkel
Robert Habeck
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