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# taz.de -- Die Grünen und sichere Herkunftsstaaten: Der Anti-Seehofer
> Kretschmann will weiteren „sicheren Herkunftsländern“ zustimmen. Wieder
> einmal setzt er den Konsens mit der Regierung über grüne Grundsätze.
Bild: Moderat und berechenbar: Auf Winfried Kretschmann kann die Kanzlerin vert…
Stuttgart taz | Selten wurde eine Bundesratssitzung mit solcher Spannung
erwartet. Denn eigentlich sollten die Länder Freitag zustimmen, Algerien,
Tunesien und Marokko zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären. [1][Doch das
Thema ist vertagt]. Die grün mitregierten Länder haben größte Bedenken.
Trotzdem sorgt Winfried Kretschmann für Aufregung. Er steht an diesem
Morgen im ARD Hauptstadtstudio mit erhabenem Blick aufs Regierungsviertel
und erklärt, warum er bereit wäre, entgegen der Parteilinie trotzdem
zuzustimmen. Die präsidiale Szenerie des Fernsehstudios passt gut.
Denn Kretschmann gefällt sich auch nach der Landtagswahl in der Rolle des
Kanzerlinnenverstehers, wenn es um die Flüchtlingspolitik geht. Er habe die
Zusage der Bundesregierung, dass Schwule, Journalisten, religiöse
Minderheiten auch aus diesen Ländern im Deutschen Asylverfahren auch
weiterhin so gründlich behandelt würden, wie bisher, sagt er. Damit sei den
Menschenrechten „ein Stück weit genüge getan“. Im Übrigen sei es wichtig,
dass sich Bund und Länder in der Flüchtlingsfrage nicht gegenseitig
blockieren.
Ein typischer Kretschmann. Denn in Wahrheit hält der baden-württembergische
Ministerpräsident die Frage, ob die Maghrebstaaten zu sicheren
Herkunftsländern erklärt werden, eher für vernachlässigbar. Im Mai kamen
aus Tunesien gerade einmal 55 Flüchtende nach Deutschland.
Er hat da einen Kompromiss verhandelt, der erst recht offenlegt, wie
klapprig das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten ist, nimmt man
Menschenrechtsfragen wirklich ernst. Denn wozu braucht es eine
Sonderbehandlung von Journalisten, Schwulen, Lesben und religiösen
Minderheiten, wenn angeblich auch bei sicheren Herkunftsländern das
individuelle Recht auf Asyl gewahrt bleibt?
Das wären alles Gründe seine Zustimmung zu verweigern und auf einen
grundsätzlich anderen Umgang mit Flüchtlingen zu dringen. Aber so tickt
Kretschmann nicht. Für ihn ist der Konsens unter Demokraten ein eigener
Wert in diesen Zeiten, die nicht nur er für Krisenzeiten der Demokratie und
Europas hält. Er hat die AfD als stärkste Oppositionsfraktion im eigenen
Landtag. Er kennt die Stimmung in der Bevölkerung zum Beispiel gegenüber
übergriffigen Gruppen von Algeriern in Köln und anderswo. Darauf, findet
er, muss man als gewählter Politiker Rücksicht nehmen.
## In der moralischen Zwickmühle
Und so bleibt er für die Kanzlerin der Anti-Seehofer. Im Ton moderat und in
der Sache stets berechenbar. Auch wenn ihn das in die moralische Zwickmühle
und den Konflikt mit seiner Partei bringt.
Und dann ist da noch der Koalitionspartner daheim. Seit März ist das eine
CDU, die sich erst daran gewöhnen muss, Juniorpartner zu sein. Bei der
Präsentation des Koalitionsvertrags hatte man – Achtung grün-schwarze
Symbolik – Kiwi und Trauben aufgefahren. Kretschmann und sein Juniorpartner
Strobl hatten ein wenig darüber gescherzt, ob der Vertrag nun mit grüner
oder schwarzer Tinte geschrieben sei, und zur Freude der konservativen in
der Union kurz zuvor ziemlich eindeutig hineingeschrieben: „Die im
Bundesrat anstehende Entscheidung über die Erweiterung des Kreises der
sicheren Herkunftsstaaten um die Maghrebstaaten werden wir unterstützen,
falls die entsprechenden hohen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen
vorliegen.“
Schon vorher hatte sich Kretschmann bei der Frage, ob er den sicheren
Herkunftsländern zustimmen wolle, hinter diesen verfassungsrechtlichen
Zweifeln verschanzt. Das Instrument selbst hat er aber verteidigt. Das
werde gebraucht, um angeblich Millionen Armutsflüchtlinge davon abzuhalten,
sich auf den Weg zu machen, obwohl klar sei, dass sie keine Chance auf ein
Bleiberecht haben, erklärt er immer wieder. Deshalb steht die Zustimmung zu
den sicheren Herkunftsländern nun im Koalitionsvertrag und Innenminister
Thomas Strobl sagt mit unschuldigem Augenaufschlag: „Ich halte
Verlässlichkeit für ein hohes Gut in der Politik. Ich gehe davon aus, Herr
Kretschmann sieht das genauso“.
Seitdem die Zustimmung im Koalitionsvertrag also festgeschrieben ist, war
Kretschmann in der Zwickmühle. Zwischen der eigenen Partei und dem
Koalitionspartner, der noch dazu in einen liberalen und einen konservativen
Flügel zerfällt. Die Hardliner in der Fraktion hätten es Strobl, der eher
die moderne CDU im Ländle repräsentiert, nicht durchgehen lassen, wenn er
Kretschmann bei diesem Symbolthema nicht auf Zustimmung verpflichtet hätte.
Der Ausweg, der jetzt gefunden ist, den trägt auch Strobls Union mit.
## Milde Reaktionen aus der Partei
Und so bleibt es der sonst eher Kretschmann-Ergebenen Landespartei
überlassen, den Deal zu kritisieren. Der Landesvorsitzende Oliver
Hildenbrand sagt: „Das Eintreten für Menschenrechte erfordere eine klare
Haltung“. Dass er es selbst war, der das Thema Flüchtlinge in den
Stuttgarter Koalitionsrunden mit verhandelt hat, sagt er allerdings nicht.
Die Reaktionen der Bundespartei sind derweil erstaunlich milde. Der
Parteivorsitzende Cem Özdemir sagt, der Ministerpräsident von
Baden-Württemberg treffe seine eigenen Entscheidungen. Der
Nordrhein-Westfalens Grünen-Chef Sven Lehmann erklärt: „Wir brauchen echte
Problemlösungen, keine stimmungsgetriebene Symbolpolitik“. Die Grünen
setzten auf Informationskampagnen in den Herkunftsländern und bessere
Rücknahmeabkommen und Beschleunigung der Verfahren.
Kretschmann setzt derweil langfristig auf den, wie sollte es auch anders
sein, pragmatischen Vorschlag eines anderen grünen Realos. Robert Habeck
hatte schon vor Längerem vorgeschlagen, Verfahren jener Flüchtlingen zu
beschleunigen, deren Länder eine erfahrungsgemäß geringe Anerkennungsquote
haben. Eine individuelle Prüfung soll dabei wie beim jetzigen Kompromiss
erhalten bleiben. Kretschmanns grün-schwarzes Kabinett hat diesen Vorschlag
schon einmal grundsätzlich seinen Segen erteilt.
17 Jun 2016
## LINKS
[1] /Bundesrat-zu-sicheren-Herkunftsstaaten/!5314250/
## AUTOREN
Benno Stieber
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