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# taz.de -- Europas Sozialdemokraten: Korrigiert den Kapitalismus!
> In Griechenland hat es die Pasok schon vorgemacht. In ganz Europa
> scheinen die Sozialdemokraten zur aussterbenden Spezies zu werden.
Bild: Warten auf die Auszahlung der Rente in Athen
Wirklich überraschend am Brexit ist vor allem eines: dass keiner ihn so
richtig erwartet hat. Denn angeblich ist das, was die britischen Wähler da
angestellt haben, zutiefst irrational, dieses Einigeln hinterm Gartenzaun,
dieses Hochziehen der Zugbrücken. Und die Schuldigen sind schnell
ausgemacht, vom [1][Zauberlehrling David Cameron] zur englischen Presse mit
ihrer europafeindlichen Giftspritzerei.
Ertragreicher wäre es jedoch, statt der Schuldfrage die nach der
Verantwortung zu stellen. Schließlich sind die Wähler nicht nur im
Vereinigten Königreich wild geworden: Mit teils radikal unterschiedlichen
Vorzeichen stimmen quer durch die Europäische Union ebenso wie in den
Vereinigten Staaten von Amerika Bürger in Massen für Protest-, für
„Anti-System“-Kräfte, für die klar links aufgestellten Podemos und Syriza
in Spanien und Griechenland, für die sich dem Rechts-links-Schema
entziehenden „Fünf Sterne“ in Italien, für Rechtspopulisten von
Skandinavien über Österreich bis Frankreich und Großbritannien.
Bei allen Differenzen zwischen diesen Parteien haben diese doch eines
gemein: Sie mobilisieren massiv jene Wähler, die früher einmal die
Kernklientel der Sozialdemokratie stellten, die „einfachen Leute“, die
Arbeiterklasse oder das, was von ihr noch übrig ist, in den Hochburgen
Labours im Nordosten Englands beim Brexit-Referendum, in den
Arbeitervierteln von Wien – 86 Prozent der österreichischen Arbeiter
votierten für den FPÖ-Mann Hofer! –, im Pas-de-Calais in Frankreich. Und in
Italien heißt die Arbeiterpartei heute Movimento5Stelle.
Um die Erfüllung des Wohlstandsversprechens für die Bürger müsse sich
Europa wieder kümmern, sagt jetzt SPD-Chef Sigmar Gabriel. Wie wahr!
Allerdings wäre hinzuzufügen, dass jenes Versprechen gegenwärtig nicht bloß
unzureichend „erfüllt“ würde: Es ist seit nunmehr diversen Jahrzehnten
schlicht gekündigt.
## „Bereichert euch“ heißt heute die Losung
Bis Ende der 70er Jahre galt im westlichen Kapitalismus: Wer arbeitete,
durfte die Hoffnung haben, dass sein Einkommen stieg, dass die Urlaube
länger, die Arbeitszeiten kürzer würden, dass der Sozialstaat mit allem
Drum und Dran, mit Renten, Gesundheitswesen, Familienleistungen ausgebaut
wurde, dass die Kinder wachsenden Zugang zu Bildung haben würden.
Damit ist es seit der neoliberalen Wende vorbei. „Bereichert euch“, hieß
nun die Losung – mit dem neuen Hütchenspieler-Versprechen, der wachsende
Wohlstand ganz oben werde schon auch nach unten „durchsickern“. Und die
Sozialdemokratie? Sie setzte sich mit ihren „Dritte Weg“-Kursen seit den
90er Jahren auf ebendiesen Zug, ihrerseits versichernd, die Entfesselung
der Märkte werde allen nützen.
Genau im gleichen Takt funktionierte die Europäische Union: Binnenmarkt,
Euro, Arbeitnehmerfreizügigkeit waren die Stichworte einer Entgrenzung,
deren angeblichen Milliarden-Prosperitätsgewinne von kundigen Ökonomen
berechnet wurden. Unten und selbst in der Mitte der Gesellschaft kam jedoch
faktisch ein ganz anderes Signal an. Das nunmehr faule Versprechen erwies
sich faktisch als Drohung.
Sinkende, bestenfalls stagnierende Realeinkommen, fortschreitende
Prekarisierung, die realistische Aussicht auf Altersarmut auf der einen
Seite, explodierende Einkommen und Vermögen auf der anderen – dies ist
heute das Gesicht der entfesselten „Marktwirtschaft“. Natürlich kann man
jetzt [2][Labour-Chef Jeremy Corbyn] vorwerfen, er habe sich nicht genügend
gegen den Brexit gestemmt; doch er hat recht, wenn er feststellt, dass
„viele Leute der Einschnitte und der Austerity überdrüssig sind“ oder dass
„viele sich ausgegrenzt und in die Ecke gedrängt finden“.
## Das Tina-Argument als Politikprämisse
Und in Europa agierte die EU spätestens seit der Euro-Krise für zahlreiche
Länder gleich nur noch als Bedrohungs-Agentur, als unbeugsamer
Sparkommissar, der heute in weiten Zonen des Kontinents für sinkende Löhne,
geschrumpfte Sozialleistungen, horrende Jugendarbeitslosigkeit steht. Auch
Gabriel spricht nunmehr von der „massiven Spaltung zwischen Gewinnern und
Verlierern“ in der EU; deren Status quo hat auf seiner Seite nur noch
„Tina“ als Argument: „There is no alternative“, wer nicht pariert, dem …
es am Ende noch viel schlechter.
Wie man auf dieser Basis dauerhaft Kapitalismus und Demokratie
beisammenhalten will, wie ihrerseits die Sozialdemokratie fürs einfache
Volk wählbar bleiben (oder wieder werden) will, ist die spannende Frage. Da
geht es nicht um die europäische „Erzählung“, um mehr oder weniger
„Leidenschaft“ beim Einsatz fürs große europäische Werk. Und es geht auch
nicht um sozialdemokratische Erfolge wie den Mindestlohn oder die Rente mit
63, um ein bisschen Palliativmedizin, die am neoliberalen Lauf der Dinge
kaum etwas ändert.
Die Sozialdemokratien in Europa laufen die Gefahr, zur aussterbenden
Spezies zu werden; in Griechenland hat es die Pasok schon vorgemacht. Aber
auch in Deutschland könnte in Zukunft ein SPD-Kanzlerkandidat mit einer
„18“ unter den Schuhsohlen in den Wahlkampf ziehen, darauf hoffend, jenes
Resultat zu erzielen, von dem einst Guido Westerwelle für die FDP träumte.
Im besseren Fall könnten dann radikal linke Kräfte wie Podemos und Syriza
an ihre Stelle treten, im schlechteren Fall bliebe die Vertretung des
einfachen Volks den Rechtspopulisten überlassen.
Umkehren lässt sich dieser Trend wohl nur, wenn auch die gemäßigt linken,
die sozialdemokratischen Kräfte in Europa ernsthaft wieder werden wollen,
was sie früher waren: ein ernsthaftes Korrektiv des Kapitalismus.
27 Jun 2016
## LINKS
[1] /Brexit-und-David-Cameron/!5313175/
[2] /Machtkampf-nach-dem-Brexit-Votum/!5316533/
## AUTOREN
Michael Braun
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