# taz.de -- Anime über Japan im 19. Jahrhundert: Einladung zum Schwelgen | |
> Traumsequenzen, von Hand gezeichnet: „Miss Hokusai“ findet für das Leben | |
> der Tochter des Malers Hokusai einen Fluss poetischer Bilder. | |
Bild: Eine Einzelgängerin auf den Straßen Edos | |
Eine Handvoll Fischerboote zwischen Bergen von Wellen. Die weiße Gischt | |
scheint bedrohlich nach den Booten zu greifen. Bilder wie Katsushika | |
Hokusais „Die große Welle vor Kanagawa“ aus der Druckserie „36 Ansichten | |
des Berges Fuji“ versetzten Mitte des 19. Jahrhunderts die gesamte | |
europäische Kunstszene in Staunen. | |
„Die große Welle von Kanagawa“ entstand 1830 und war 1867 das erste Mal in | |
Europa auf der Weltausstellung in Paris zu sehen. Jenes Jahr ist zentral in | |
der japanischen Geschichte: Es markiert das Ende der Shogunherrschaft in | |
der Edo-Zeit und die Wende hin zur Meiji-Restauration, die den Beginn der | |
Industrie- und Imperialmacht Japan bedeutete. | |
Hara Keiichis Anime „Miss Hokusai“ versetzt uns in das Japan der ersten | |
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Film verschiebt den Fokus weg von den | |
großen Bögen der japanischen (Kultur-)geschichte und erzählt die Geschichte | |
einer der Töchter Hokusais. Wenig ist bekannt über Katsushika Ōi (die in | |
dem Film O-Ei heißt) – weder ihr Geburtsdatum noch das ihres Todes oder | |
Details zu ihrem Leben nach dem Tod ihres Vaters. | |
Das Drehbuch zu „Miss Hokusai“ von Miho Maruo beruht auf der Manga-Reihe | |
„Sarusuberi“ von Sugiura Hinako. Sugiura hatte ihre Laufbahn als | |
Assistentin der feministischen Mangaautorin Yamada Murasaki begonnen, die | |
1980er Jahre hindurch mehrere eigene Reihen entworfen und sich Anfang der | |
1990er Jahre aus der Mangaproduktion zurückgezogen, um sich dem | |
historischen Studium der Edo-Zeit zu widmen. | |
Hara Keiichi lässt all dies in „Miss Hokusai“ einfließen, verwendet viel | |
Aufmerksamkeit auf Kleidung und Orte im damaligen Edo, dem heutigen Tokio. | |
Zugleich entwirft Hara in den klaren, zu großen Teilen handgezeichneten | |
Bildern des Films voller harmonischer Farben ein schlüssiges Porträt von | |
Katsushika Ōi. Auch wenn das Episodische der Vorlage im Film noch | |
anklingt, fügen sich die Elemente stärker zu einer zusammenhängenden | |
Erzählung. | |
Die junge O-Ei unterstützt ihren Vater, kümmert sich um ihre kleine blinde | |
Schwester O-Nao und arbeitet an ihrer eigenen Karriere als Künstlerin. | |
Zugleich tauchen in dem Film mit einer angenehmen Beiläufigkeit Anklänge an | |
die Bildwelten von Vater und Tochter Katsushika auf. Am prominentesten in | |
einer kurzen Bootsfahrt, die O-Ei mit ihrer kleinen Schwester unternimmt. | |
Auf die Frage der kleinen Schwester bis wohin das Boot fährt, erwidert | |
O-Ei: „Bis ans Meer.“ Und dass Hokusai es liebe, das Meer und die Wellen zu | |
malen. Schon findet sich das Boot mit den beiden Schwestern in einer kurzen | |
Imitation von Hokusais Bild wieder. | |
Hara entwirft das Bild einer ganz dem künstlerischen Leben gewidmeten | |
Gemeinschaft von Vater und Tochter, die gemeinsam mit dem Maler Zenjiro und | |
seinem Hund in einer Hütte wohnen. Während O-Ei dem Vater rauchend beim | |
Malen zuschaut, erklärt ihre Stimme aus dem Off: „Wir kochen nicht, wir | |
putzen nicht. Wenn es uns zu dreckig wird, ziehen wir um.“ | |
„Miss Hokusai“ zeigt Hokusai als das, was er zeitgenössisch war: als | |
Kunsthandwerker, der Druckvorlagen von höchster Präzision erstellt. Seine | |
Tochter und sein Schüler Zenjiro bilden mit Hokusai eine Art Werkstatt, die | |
beiden ein überraschend freies Leben ermöglicht. Vor allem O-Ei wird als | |
junge Frau von den Zumutungen der Rollenerwartungen erfreulich wenig | |
behelligt. | |
Dies hebt auch Hara in einem Interview mit dem Onlinemagazin All the Anime | |
hervor: „Ich bin nicht sicher, ob man den Film – oder Sugiuras Manga – als | |
‚feministisch‘ bezeichnen kann. Ich glaube – und ich vermute, es war auch | |
Sugiuras Ansicht –, dass von Frauen in der Edo-Zeit – nicht von Frauen aus | |
der Samurai-Klasse, sondern solchen aus der normalen Bevölkerung – weniger | |
erwartet wurde, Vorstellungen von sozialem Verhalten zu entsprechen; eine | |
Situation, die sich nach der Meiji-Restauration von 1868 änderte, als viele | |
westliche Konzepte im Land eingeführt wurden.“ | |
Hara Keiichis „Miss Hokusai“ gewann auf dem wichtigsten Festival für | |
Animationsfilm in Europa in Annecy den Preis der Jury. Haras Film erzählt | |
nicht einfach nur die Geschichte einer jungen Künstlerin, die über ihren | |
Tod hinaus im Schatten ihres Vaters steht: Er verwebt diese Geschichte mit | |
schwelgerischen Episoden der Naturerfahrung, Traumsequenzen und | |
Halluzinationen, in denen der Film Freiräume für experimentellere Momente | |
findet, und liebgewordene Konventionen des Animationsfilms, wie das | |
menschenähnliche Verhalten des Hunds von Hokusais Schüler Zenjiro. | |
„Miss Hokusai“ betört seine Zuschauer mit der ganzen Schönheit klassischer | |
handgezeichneter Animation und erteilt den vielen 3-D-Animationsfilmen wie | |
nebenbei eine Lektion. Eine Einladung zum Schwelgen, Träumen und zu | |
grenzenloser Freude an den Bildern. | |
16 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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