| # taz.de -- Kinostart „Wie der Wind sich hebt“: Jiro Horikoshis Traum | |
| > Ein Biopic mit vielen Freiheiten: Hayao Miyazakis animierter Film „Wie | |
| > der Wind sich hebt“ porträtiert einen Flugzeugingenieur aus Japan. | |
| Bild: Jiro (r.) mit seinem imaginären Ratgeber, dem legendären Flugzeugbauer … | |
| Die „Ca.60“ des italienischen Ingenieurs Giovanni Battista Caproni war ein | |
| erstaunliches Flugzeug und ihrer Zeit weit voraus: Ein Flugboot mit drei | |
| Dreideckerflügeln, acht Motoren mit je 400 PS und Platz für 100 Passagiere | |
| im Rumpf. Der Jungfernflug dieses Wunderwerks, das für | |
| Transatlantiküberquerungen gedacht war, endete im März 1921 allerdings | |
| wenig rühmlich im Lago Maggiore: Höher als 20 Meter ist die Caproni „Ca.60�… | |
| niemals gestiegen. | |
| In Hayao Miyazakis Film „Wie der Wind sich hebt“ ersteht sie jedoch in | |
| einer Traumvision wieder auf (und stürzt auch gleich wieder ab). Wer hier | |
| träumt, ist der Flugzeugingenieur Jiro Horikoshi, dem Caproni zum Vorbild | |
| und zur Inspiration wird. | |
| In hinreißend animierten Visionen gleiten die beiden, Caproni und | |
| Horikoshi, in und auf Capronis Maschinen und beinahe auch um sie herum | |
| durch die Lüfte, während noch im rasenden Flug der Bowlerhut auf dem Kopf | |
| bleibt. Sie sind, alles ist in Miyazikis euphorisierenden Traumanimationen | |
| den Gesetzen der Schwerkraft enthoben. | |
| Fliegen und träumen, Flugträume und Traumflüge sind in „Wie der Wind sich | |
| hebt“ unauflösbar vermischt. Während aber die meisten der Filme von Hayao | |
| Miyazaki ihre Realitätsbezüge mit wuchernden Fantasiegebilden und | |
| west-östlichen Märchengeschichten umkleiden, ist sein nach eigener Auskunft | |
| letztes Werk in historischen Realitäten geerdet. | |
| Er zeigt die Zerstörung Tokios durch das Erdbeben des Jahres 1923 als | |
| Feuersbrunst und Weltuntergang; er zeigt die Baupläne und | |
| Ingenieurskonstruktionen, er erzählt vom Heraufzug des Faschismus in Japan | |
| und Deutschland. | |
| Der Ingenieur Junkers, die Mitsubishi-Werke und die vielen Flugzeugmodelle | |
| und -typen der Zeit sind real existierenden Plänen und Typen nachempfunden | |
| – wenn auch mit animationspoetischen Lizenzen an den richtigen Stellen. | |
| ## Werner Herzog singt | |
| Und Jiro Horikoshi, den japanischen Flugzeugingenieur, hat es wirklich | |
| gegeben. Über 30 Jahre hinweg erzählt der Film seine Biografie – er ist ein | |
| Biopic, das sich aber viele Freiheiten nimmt. Die traurige | |
| Liebesgeschichte, die er in die Historie hineinwirkt, ist einer fiktionalen | |
| Erzählung entnommen, einer von Tatsuo Hori 1937 verfassten Novelle, die in | |
| einem Lungensanatorium in Nagano spielt. | |
| Eine längere Sequenz ist außerdem eine wunderbar elegante | |
| „Zauberberg“-Paraphrase, mit einem nazikritischen Deutschen mit Namen | |
| Castorp, den in der englischen Fassung übrigens Werner Herzog spricht und – | |
| leider – auch singt. | |
| Der Titel wiederum weht von Hori herüber. Wie ein Refrain kehrt eine Zeile | |
| im Film mehrfach wieder: „Le vent se lève ... / Il faut tenter de vivre!“ … | |
| deutsch: „Der Wind hebt an. / Leben: Ich versuch es!“ Das ist der Auftakt | |
| zur letzten Strophe von Paul Valérys berühmtem Gedicht „Der Friedhof am | |
| Meer“ und steht als Motto über Horis Erzählung. | |
| Das sind andere Einflüsse und Anspielungshorizonte als in früheren Filmen, | |
| aber der Synkretismus, die Mixtur von Elementen aus allen möglichen Texten | |
| und Kontexten ist ganz typisch für Miyazaki. Immer hat er in seinen Filmen | |
| westliche Märchenmotive und östlichen Animismus, Traditionsbewusstsein und | |
| Technikbegeisterung, hinreißende Fantasiewesen und sehr reale Kinder-, | |
| Teenager- und Erwachsenennöte, Plädoyers gegen Raubbau an Mensch und Natur | |
| und wild ins Kraut schießende Bild- und Figurenerfindung in Balancen | |
| gebracht wie sonst keiner. Und das seit nun vier Jahrzehnten. | |
| ## Heidi als Zeichentrickserie | |
| Begonnen hat er als einer der zentral Beteiligten der 1974 entstandenden | |
| „Heidi“-Zeichentrickserie, die in Japan wie im Westen stilbildend war. Es | |
| folgten erste TV-Serien unter eigener Regie, dann Kinofilme, oft nach | |
| eigenen Mangas. | |
| Der große Erfolg von „Nausicaa aus dem Tal der Winde“ ermöglichte Miyazaki | |
| 1984 gemeinsam mit dem kaum weniger großartigen Animationsfilmer und | |
| „Heidi“-Regisseur Isao Takahata die Gründung des längst legendären Studi… | |
| Ghibli. | |
| „Mein Nachbar Totoro“, einer der schönsten Miyazaki-Filme, war 1988 an den | |
| Kassen ein Flop. Seit den Neunzigern aber folgte eine Reihe von Werken, von | |
| „Kikis Delivery Service“ über „Prinzessin Mononoke“ bis „Chihiros Re… | |
| Zauberland“, die jeweils Einspielrekorde an den japanischen Kinokassen | |
| aufstellen konnten. | |
| Der Westen dagegen bewies im Umgang mit Miyazakis Meisterwerken lange vor | |
| allem seine Ignoranz und Rückständigkeit in Sachen Animation. Weil die | |
| Filme, die sich an Kinder wie Erwachsene und dabei keineswegs nur ans Kind | |
| im Erwachsenen richten, nicht in die Disney-Raster passten, wurden sie in | |
| den USA verstümmelt und passend gemacht. | |
| Ich erinnere mich noch gut, wie auf der Berlinale 2003 die internationale | |
| Presse das Kino in Scharen verließ – und so ahnungs- wie ratlos reagierte, | |
| als „Chihiros Reise ins Zauberland“ dann völlig zu Recht den Goldenen Bär… | |
| gewann. Es herrscht in vielen Köpfen wirklich eine sehr unreife Idee davon, | |
| was es heißt, erwachsen zu sein. Dann bekam „Chihiro“ allerdings noch den | |
| Oscar – seitdem darf Miyazaki auch international als durchgesetzt gelten. | |
| Der Studioname „Ghibli“ (auszusprechen mit dsch wie Dschinn) bezeichnet | |
| übrigens einen Wüstenwind – und ist in der Übertragung der Spitzname eines | |
| Flugzeugs von Caproni: So schließt sich mit diesem Film sehr schön der | |
| Kreis. | |
| Ohnehin darf man die Geschichte des flugzeugvernarrten Ingenieurgenies Jiro | |
| auch als verschobenes Selbstporträt Miyazakis begreifen. Was im Guten wie | |
| im Problematischen gilt. So wird zwar die Tatsache nicht verschwiegen, dass | |
| Jiro Hirokoshi auch die japanischen Jagdbomber entwarf, die beim Angriff | |
| auf Pearl Harbour zum Einsatz kamen. Der Film ist überhaupt pazifistisch im | |
| Ton und im Gestus, sagt mehrfach ganz explizit, dass die militärische | |
| Verwendung des Flugzeugs schnöder Missbrauch technischen Wunderwerks durch | |
| eine freilich ziemlich ungreifbar bleibende Macht namens „Krieg“ ist. | |
| ## Kritik in Japan | |
| Das hat Miyazaki in Japan von rechts heftige Kritik eingetragen, bleibt | |
| aber so politisch naiv, wie es ernst gemeint ist. In der Konsequenz läuft | |
| es darauf hinaus, dass der Protagonist weitestgehend unbefleckt bleibt vom | |
| Einsatz seiner Flugzeuge für das Verbrechensregime. Da träumt sich Miyazaki | |
| – offenen Auges – einen sauberen Helden zurecht. | |
| Andererseits: Weiter als Miyazaki kann man von der Riefenstahlisierung von | |
| Mensch und Maschine kaum entfernt sein. Das beginnt mit der zwar eifrig | |
| spätromantisierenden, aber denkbar unwagnerianischen Musik des | |
| Ghibli-Hauskomponisten Joe Hisaishi, der eigentlich von der Minimal Music | |
| her kommt. Es setzt sich fort in der Darstellung sämtlicher Flugzeuge als | |
| quasilebende Wesen, die atmen, pumpen, zittern und beben: Anime und ein ins | |
| Surreale tendierender Animismus als Belebung des Unbelebten gehören bei | |
| Miyazaki schon immer zusammen. | |
| Markant, wirklich exzentrisch und denkbar unmartialisch ist das Sounddesign | |
| ausgefallen: Die Motorengeräusche aller Flugzeuge, aber manchmal auch das | |
| Heulen des Winds und das Rattern von Zügen sind von Menschenmündern erzeugt | |
| und im Monosound produziert: technische Abrüstung als Programm. | |
| Man kann diese kindlich-artifizielle Geräuschimitation gar nicht anders | |
| denn als Spott auf die Dolby-Surround-Scapes der Blockbustergegenwart | |
| begreifen. Und das ist kein Zufall, darin liegt der Kern der | |
| Miyazaki-Ästhetik: Ob er ins Große und Philosophische zielt oder ins Kleine | |
| mit Fantasiegestaltengekrabbel, ob er die Welt an den Rand des Untergangs | |
| treibt oder Totoro im Regen an den Straßenrand stellt, bis der Katzenbus | |
| kommt – das menschliche Maß bleibt ihm Richtschnur. Das ist altmodisch aus | |
| Prinzip. Aber ein reicher und schöner und ergreifender Film ist auch „Wie | |
| der Wind sich hebt“ wieder geworden. | |
| 17 Jul 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Ekkehard Knörer | |
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