# taz.de -- Animationsfilme in Annecy: Ein magischer Findling | |
> Japanische Altmeister, reduzierte Bildsprache aus Brasilien und viele | |
> junge Menschen im Kino: Das Filmfestival von Annecy spezialisiert sich | |
> auf Trickfilme. | |
Bild: Schöne Metaphern für graduelle Abweichungen von der Norm: Szene aus „… | |
Ob das 1960 gegründete Festival International du Film d’Animation | |
tatsächlich die weltweit wichtigste Plattform für den Trickfilm ist, lässt | |
sich nicht erschöpfend beantworten. In Stuttgart, wo jedes Jahr das | |
Internationale Trickfilmfestival stattfindet, sieht man das sicher anders. | |
Fest steht, dass das Festival in Annecy ausgesprochen jung wirkt. Während | |
der knappen Woche werden Straßen und Plätze des akkuraten Provinzfleckens | |
von jungen Menschen dominiert, in den Kinos herrscht eine ausgelassene | |
Atmosphäre. Anders als in Deutschland wird in Frankreich das Kino insgesamt | |
ja als wichtige Nationalkultur wahrgenommen. Hier werden ungleich mehr | |
Filme produziert als bei uns; auch Animationsfilme, sowohl abendfüllende | |
als auch kurze. | |
Besonderer Wert wird auf eine breite Nachwuchsförderung gelegt. Dies | |
betrifft alle filmischen Bereiche. Animationsfilm wird in zahlreichen | |
Universitäten unterrichtet und praktiziert. Nach der Ausbildung finden | |
viele der Absolventen weiter ein Auskommen. Es machte den Eindruck, als sei | |
für jeden dieser Studierenden und Absolventen die Reise nach Annecy ein | |
unbedingter Pflichttermin. So wird das Festival in der Region Savoyen für | |
ein paar Tage zum authentischen Ausdruck einer pulsierenden cineastischen | |
Szene – das kann schon etwas neidisch stimmen, denn dies gibt es bei uns so | |
nicht. | |
Neben den Wettbewerben im Kurz- und Langfilm bot Annecy in diesem Jahr | |
zahlreiche Sonderprogramme, Konzerte, Ausstellungen, Panels und Workshops. | |
Mit dem Mifa (Marché international du Film d’Animation) gibt es zudem einen | |
stark frequentierten Filmmarkt, auf dem marktbeherrschende Konzerne ebenso | |
vertreten sind wie die zahlreichen fernöstlichen und indischen Firmen oder | |
europäische und nordamerikanische Indies. Auf der großen Festwiese direkt | |
am Lac du Annecy trudelten allabendlich Tausende von Filmfans ein, um den | |
Open-Air-Vorführungen in volksfestartiger Atmosphäre beizuwohnen. Auch die | |
WM konnte dem nicht ernsthaft Konkurrenz machen. | |
## Im Bambuswald | |
Eröffnet wurde das Festival mit „Kaguya-Hime Ne Monogatari“ („The Tale of | |
the Princess Kaguya“) des japanischen Altmeisters Isao Takahata. In diesem | |
wunderbar altmodisch animierten Märchen findet ein betagter Holzfäller im | |
Bambuswald eine Mondprinzessin, um die er sich mit seiner Frau | |
kümmert.Durch den magischen Findling kommt das Paar zu Glück und Wohlstand, | |
erlebt bald aber auch Missgunst und Schmerz. Das alles ist mit viel Liebe | |
inszeniert, erschöpft sich aber mitunter (zumindest für europäische | |
Sehgewohnheiten) im endlos wirkenden Zelebrieren ritueller Handlungen. | |
Produziert wurde der Film im legendären Ghibli Studio in Tokio. Dessen | |
Mastermind Hayao Miyazaki wurde in Annecy ebenfalls mit einer | |
Sondervorführung geehrt. Das als sein letzter Film angekündigte Werk „Kaze | |
Tachinu“ („Wie der Wind sich hebt“) kommt demnächst auch bei uns ins Kin… | |
Miyazaki wird für seine visionären Bilderwelten voller Fabelwesen und | |
unberechenbaren mythischen Reisen weltweit geliebt. Es ist ein wenig | |
schade, dass er mit seinem Abschiedsfilm nun fast realistisch wird. Denn | |
die meisten Szenen hätten auch in einem normal fotografierten Film ihren | |
Platz finden können. | |
## Genie der Luftfahrt | |
Die Geschichte seines Helden Jiro, der sich vom wissbegierigen Knaben zum | |
genialischen Luftfahrtingenieur entwickelt, krankt etwas unter der | |
Ausblendung historischer und politischer Zusammenhänge. Fast scheint es, | |
als sei Jiro ein Opfer der Zeit und nicht deren integraler Bestandteil. | |
Obwohl das Ghibli Studio also etwas enttäuschte, war es sehr schön, diese | |
strikten Anti-Disney-Entwürfe auf der Leinwand zu erleben. Hollywood war in | |
Annecy ebenfalls stark präsent, ging aber bei den Preisen leer aus. | |
Den Haupt- und Publikumspreis als bester Langfilm gewann „O Menino e o | |
Mundo“ („Der Junge und die Welt“) des 1971 geborenen Brasilianers Alê | |
Abreu. In bemerkenswert reduzierten Bildern begleitet er einen Jungen aus | |
klammen Verhältnissen, der, seinen Vater vermissend, die Welt für sich | |
entdeckt. Mit universellen Themen setzten sich auch viele sehenswerte | |
Kurzfilme auseinander. „La petite casserole d’Anatole“ („Die kleine Pfa… | |
von Anatol“) von Éric Montchaud (Frankreich) findet schöne Metaphern für | |
graduelle Abweichungen von der Norm und für Wege zur Integration. | |
„Nul poisson où aller“ („Kein Fisch, zu dem man gehen könnte“) von Ni… | |
Lemay und Janice Nadeau (Kanada) zeigt anhand lose verknüpfter | |
Kleinstadtanekdoten, wie dünn das Eis der Zivilisation ist und wie schnell | |
das „normale Leben“ in Terror und Willkür umschlägt. Die kindliche | |
Perspektive und die scheinbar einfachen Animationen entfalten in nur zwölf | |
Minuten einen komplexen Raum menschlicher Größe und Abgründe. | |
18 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Claus Löser | |
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