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# taz.de -- Animationsfilm aus Tschechien: Der Schildkrötige
> In „Alois Nebel“ von Tomas Lunak sucht die Vergangenheit den Helden heim.
> Die Charaktere bewegen sich mit einer verblüffenden Geschmeidigkeit.
Bild: In den Bildern von „Alois Nebel“ verschmelzen fotorealistische Hinter…
Alois Nebel ist, nicht ungewöhnlich im Genre der Graphic Novel, ein
sprechender Name. „Manchmal überkommt mich so ein Nebel“, erklärt Alois d…
Sanatoriumsarzt seinen Zustand. Diese Beschreibung ist als Sprachbild zu
verstehen, denn was dem Protagonisten von Tomas Lunaks gleichnamigem
Animationsfilm die Sinne vernebelt, ist eine traumatische Erinnerung, die
sich aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit in sein Bewusstsein
einschleicht.
Wenn der Fahrdienstleiter eines Bahnhofs im Altvatergebirge, dem
Grenzgebiet zwischen Tschechien und Polen, abends zu Hause sitzt,
überkommen ihn diese Bilder wie gleißendes Licht: das Gesicht eines
Mädchens, eine Szene am Bahnhof, ein Schrei, ein Schuss.
Mit diesen Bildern ist Alois Nebel allein. Er verliert sich in den
Schleiern der Vergangenheit, so dass sein unsympathischer Kollege Wachek
die Gelegenheit ergreift und sich seinen Job unter den Nagel reißt. Er
lässt Alois in eine Klinik einweisen, in der es weniger um die Heilung der
Patienten als vielmehr um deren Zurichtung geht. Hier trifft er auf einen
stummen Mann, der sich als Schlüssel zu seiner verschleierten Erinnerung
erweist.
Der Stumme trägt ein Gruppenfoto bei sich, auf dem neben Alois’ Vater auch
das Mädchen aus seinen Visionen zu sehen ist. Die Nervosität, mit der die
Menschen in dem entlegenen Bergdorf auf die Ankunft des Fremden reagieren,
deutet bereits an, dass Alois’ traumatische Erfahrung mit einer kollektiven
Schuld zu tun hat.
## Keine erkennbare innere Haltung
„Alois Nebel“ spielt im Zäsurjahr 1989. Es gibt aber noch eine weitere
historische Marke im Film und in der Graphic Novel des tschechischen
Zeichners Jaromír 99: das Jahr 1945 und die Vertreibung der deutschen
Bevölkerung aus dem ehemaligen Sudetenland. Alois hat die Vertreibung als
kleiner Junge am Bahnsteig miterlebt, sein Vater hatte damals dieselbe
Funktion, die er heute bekleidet. Knapp 45 Jahre später wird Alois Zeuge
der nächsten „Vertreibung“.
Mit dem Ende des Kommunismus ziehen die russischen Soldaten aus dem
Grenzgebiet ab. Kollege Wachek ist ein Profiteur des Rückzugs. Immer gibt
es auf unredliche Weise etwas zu verdienen, wenn Menschen ein Leben hinter
sich lassen müssen. Und auch Alois hat etwas zu verlieren. Als er aus der
Nervenheilanstalt zurückkehrt, kämpft er um seine Reputation und seine
Gesundheit, auch wenn seine Schildkrötigkeit keine innere Haltung verrät.
Er geht nach Prag, um an höchster Stelle Widerspruch gegen seine Kündigung
einzulegen. Aber in den Wirren der Nachrevolution zeigt die bürokratische
Ordnung Auflösungserscheinungen.
Lunak greift für seine Adaption der Graphic Novel ein Genre auf, das
ebenfalls von Motiven der Verdrängung und des Vergessens durchdrungen ist:
den Film Noir. Es gibt kaum Grauabstufungen in den Bildern von „Alois
Nebel“, die Welt ist streng in Schwarz und Weiß gegliedert. Licht und
Schatten. Diese Trennschärfe verleiht den Bildern eine dramatische
Qualität. Das dominante Schwarz schluckt alle Feinheiten, während am
anderen Ende der Helligkeitsskala die Zeichnungen ausbrennen. Was in den
harten Kontrasten an Informationen verloren geht, muss sich der Film erst
wieder mühsam erarbeiten.
## Fließende Übergänge
Alois Nebel übernimmt jedoch nicht die Rolle des Detektivs. Er ist Subjekt
und Objekt zugleich: ein Suchender, der von den Widrigkeiten seiner Zeit
getrieben wird. Seine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verläuft
passiv. So wie er die Erinnerungen verdrängt hat, schiebt er nun auch die
mühevolle Arbeit der Diagnose auf.
Die Methode der Rotoskopie, bei der Filmaufnahmen am Computer „übermalt“
werden, ist die kongeniale Umsetzung einer Geschichte, in der die Übergänge
von der Vergangenheit in die Gegenwart und vom Bewusstsein ins Unbewusste
fließend verlaufen. In den Bildern von „Alois Nebel“ verschmelzen
fotorealistische Hintergründe mit linolschnittartigen Zeichnungen, die
Charaktere wiederum bewegen sich mit einer verblüffenden Geschmeidigkeit.
Die Animationen beschreiben wie die Geschichte von Alois Nebel einen
Zwischenzustand: die Einsamkeit eines Fahrdienstleiters, zwischen Trauma
und Melancholie.
12 Dec 2013
## AUTOREN
Andreas Busche
## TAGS
Kino
Spike Lee
Komödie
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